Nicht nur den Kaffeehäusern kam eine wichtige gesellschaftliche Rolle zu, sondern auch dem Salon. Beide sind für die Geschichte des Pousse Cafés wichtig, weshalb sich dieser Beitrag dieser Serie näher mit dem Entstehen und der Bedeutung des Salons beschäftigt.
Der Begriff ›Salon‹
Der Begriff ›Salon‹ ist erstmals im Jahr 1664 nachweisbar und leitet sich vom italienischen Wort ›salone‹ ab, welches wörtlich übersetzt ›großer Saal‹ bedeutet. [1] In den Nachträgen zur ersten Ausgabe des Brockhaus‘ aus dem Jahr 1811 wird definiert: »Der Salon (a. d. Franz.) heißt bekanntermaaßen ein großer Saal in Palästen oder großen Gebäuden, welcher zur Gesellschaft, zum Ball &c. bestimmt ist. In Frankreich wurden ehedem Salons gewisse literarische und ästhetische Zirkel genannt, wo man sich zu feinen geistreichen Unterhaltungen versammelte, und wo öfters die merkwürdigsten Erscheinungen in der Literatur sowol als in der Politik aufs lebhafteste besprochen wurden. Meistentheils standen diese Salons unter der Leitung einer schönen geistreichen Frau, in deren Hause sich dann öfters die ausgezeichnetsten Personen aus allen Ständen versammelten.«[16-339]
Catherine de Rambouillet
Catherine de Rambouillet war für ihren Salon bekannt, den sie im Hôtel de Rambouillet von 1608 bis zu ihrem Tod im Jahr 1665 führte. Das Hôtel befand sich unweit des Louvres, in der Rue Saint-Thomas-du-Louvre, zwischen dem Louvre und den Tuilerien gelegen. Dieses Haus, das sie von ihrem Vater ererbt hatte, ließ sie nach selbst entworfenen Plänen umgestalten, damit es Räume enthielte, die für Empfänge geeignet seien. [3][4] Hier trafen sich geistig interessierte Hochadelige, Kleinadelige und bürgerliche Intellektuelle. Sie sorgte auch für die Anwesenheit adliger Damen und junger Mädchen. Dieser Kreis übte sich in geistreicher Konversation galanter Gelegenheitsdichtung. Die Ausdrucksweisen dieses Kreises wirkten in die pariser Gesellschaft und die Literatur hinein, wo sie bald nachgeahmt oder auch belächelt wurden. [11]
Im Hôtel de Rambouillet befand sich auch das sogenannte ›blaue Zimmer‹, in dem sie auf einem Bett liegend Schöngeister, Literaten und große Persönlichkeiten ihrer Zeit zur ›Ruelle‹ empfing. [3]
Die Bezeichnung ›Ruelle‹ bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie ›Sträßlein‹ oder ›Gasse‹. Sie war eine Sonderform des Salons, und man verstand darunter das als Empfangsraum genutzte Schlafgemach hochgestellter Damen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu einem normalen Salon bot die Ruelle einen intimeren Rahmen für sozial-schöngeistige Zusammenkünfte. [5]
»Man spricht dort gelehrt, aber man spricht vernünftig, und es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem es mehr gesunden Menschenverstand und weniger Galanterie gibt.«[3]
– »On y parle savamment, mais on y parle raisonnablement et il n’y a lieu au monde où il y ait plus de bon sens et moins de galanterie.«[3]
So beschrieb der französische Schriftsteller, Wegbereiter der französischen Klassik, Kulturpolitiker und Gründungsmitglied der Académie française, Jean Chapelain das Hôtel de Rambouillet. [3][6] Dort traf sich jedoch keine schulmeisterliche Gesellschaft, denn obwohl die Unterhaltungen gerne intellektuell geführt wurden, folgten in der jungen und fröhlichen Welt des Hôtel de Rambouillet Bälle und Vergnügungen aufeinander und es wurden Liebesintrigen gesponnen und gelöst. [3]
Die dort ebenfalls verkehrende französische Schriftstellerin, Madeleine de Scudéry, die zu den bedeutendsten französischen Autoren des 17. Jahrhunderts zählt und die erste französische Autorin war, die auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurde, und später einen eigenen Salon eröffnete, [3][7] schrieb: »Die Marquise hat die Kunst gefunden, aus einem Platz von mäßiger Größe einen Palast von großer Weite zu machen. Ordnung, Regelmäßigkeit und Sauberkeit herrschen in allen ihren Appartements und an allen ihren Möbeln: Alles ist prächtig und sogar besonders: Die Lampen sind anders als an anderen Orten, ihre Kabinette sind voll von tausend Raritäten, die das Urteilsvermögen derjenigen erkennen lassen, die sie ausgewählt hat. Die Luft ist immer parfümiert, verschiedene prächtige Körbe voller Blumen sorgen für einen ständigen Frühling in ihrem Zimmer, und der Ort, an dem man sie gewöhnlich sieht, ist so angenehm und so gut ausgedacht, daß man glaubt, sich in einer Verzauberung zu befinden.«[3]
– »La marquise a trouvé l’art de faire en une place de médiocre grandeur un palais d’une vaste étendue. L’ordre, la régularité et la propreté sont dans tous ses appartements et à tous ses meubles: tout est magnifique chez elle, et même particulier: les lampes sont différentes des autres lieux, ses cabinets sont plein de mille raretés qui font voir le jugement de celle qui les a choisies. L’air est toujours parfumé, diverses corbeilles magnifiques, pleines de fleurs, font un printemps continuel dans sa chambre, et le lieu où on la voit d’ordinaire est si agréable et si bien imaginé qu’on croit être dans un enchantement.«[3]
Ein anderer Gast berichtete: »Die Größe und Helligkeit des Hôtel de Rambouillet inspirierten uns zu einer geistreichen Konversation. Die Frauen ermunterten und befragten uns. Sie hörten uns zu, und wir ihnen.«[8-11:35]
Ihr Salon wurde auch beschrieben mit den Worten: »Bis Mitternacht wurden Speis und Trank im Überfluß serviert. Viele kamen von weit her, um ihre Gedichte vorzutragen, oder ihre Stücke vorzulesen. Gesang, Musik, Tanz, Spiele. Niemals kam Langeweile auf. Tagsüber kehrten wir zur Marquise und ihrer Ruelle zurück.«[8-14:00]
Wie bedeutend ihr Salon war, ersieht man auch daran, dass ihre Stammgäste die Gründungsmitglieder der Académie française waren. [8-13:05]
Weitere Salons und Ruelles
Dem Vorbild Catherine de Rambouillets folgend wurden in den 1650er Jahren in Paris zahlreiche Salons und Ruelles eröffnet. Diese Art des Empfanges war zu einer Mode unter den Pariserinnen geworden. [8-16:35] Als Beispiel sei Anne-Thérèse de Marguenat de Courcelles genannt, auch bekannt unter dem Namen Marquise de Lambert. Sie eröffnete ihren literarischen Salon im Jahr 1710. Ihr im Hôtel de Nevers gehaltener Salon war zwischen 1710 und 1730 ein allgemeiner Treffpunkt. [8-25:55] Die Marquise berichtete: »Der Schriftsteller Fontenelle, einer meiner treuesten Besucher, stellte einmal folgende Scherzfrage: Was ist der Unterschied zwischen einer Salonnière und einer Uhr? Die eine zeigt uns die Zeit an, die andere läßt sie uns vergessen.«[8-26:53]
Die Salons der damaligen Zeit waren Orte, an denen man Beziehungen knüpfte, und die Salonnièren versuchten sich gegenseitig zu überbieten. [8-27:18] Dabei erlangten sie einigen Einfluß und waren ein Machtzentrum, wie beispielsweise Madame Geoffrin. [8-30:10] Sie war eine Bürgerliche, die Bekanntschaft mit einer Kaiserin machte und mit einem König befreundet war. Ihre Reputation und das europaweite Prestige ihres Salons zog auch angesehene Ausländer in ihren Salon. [8-31:23][15]
Horace Walpole, ein britischer Schriftsteller, Politiker und Künstler und der 4. Earl of Orford, [14] schrieb: »Die Kunst des gesellschaftlichen Lebens ist eine französische Besonderheit. Es ist verblüffend, wie einflußreich und frei die Frauen hier sind und wie die Männer ihnen gleiches Interesse entgegenbringen.«[8-32:05] In England und Deutschland gab es nichts dergleichen, ebensowenig in Italien oder Spanien. Dort zog sich die sittsame Hausherrin nach dem Dessert zurück, während die Männer unter sich blieben. [8-32:05]
Die Bedeutung des Salons läßt sich so zusammenfassen: »Im 17. und 18. Jahrhundert leisteten in Europa wohlhabende und gebildete Frauen einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation: Sie öffneten ihre Salons für gelehrte und geistreiche Gespräche, durch die sie an der damals noch den Männern vorbehalten Welt des Wissens teilhaben konnten. So wurden sie zu Vorreiterinnen im Kampf um die intellektuelle Unabhängigkeit der Frau.«[8]
Der bereits in einem vorherigen Beitrag zitierte Johann Kaspar Riesbeck beschreibt die Bedeutung der Frauen bei Empfängen in Wien in seinen 1783 erschienenen Briefen in diesem Sinne: »Auf diese Art ist es sehr begreiflich, daß die meisten Gesellschaften hier, welches mir gleich anfangs auffiel, so todt sind. Die Materie vom Theater ist bald erschöpft, und dann hat man zur Unterhaltung des Gesprächs keine Hilfsmittel mehr, als die täglichen Stadtneuigkeiten und schale Bemerkungen darüber. Das Frauenzimmer ist hier allein im Stand, ein gesellschaftliches Gespräche beym Leben zu erhalten. Es sticht durch natürlichen Witz, Lebhaftigkeit und durch mannichfaltige Kenntnisse mit dem hiesigen Mannsvolk erstaunlich stark ab. Ich hab hier in 3 bis 4 ansehnlichen Häusern Bekanntschaft, worin die Herrn in den ersten 5 Minuten am Ende von allem sind, was sie zu sprechen wissen; und ohne Galanterien einzumischen, find ich bey ihren Weibern und Töchtern eine unerschöpfliche Quelle von lebhaftem Gespräche. Es ist wahr, oft wird der Faden des Gesprächs blos durch die natürliche Neugierde des Frauenzimmers fortgesponnen; aber alle Fragen, welche die Neugierde sie thun läßt, verrathen schon einige Bekanntschaft mit dem Gegenstand, worauf sie sich beziehn, oder wenigstens mit dem Gegentheil davon, und sie sammeln dadurch einen Fonds zu neuen Bemerkungen und zur Unterstützung eines neuen Gesprächs. Eben diese Neugierde fehlt den Männern, die überhaupt zu stumpf sind, und zu wenig von allem dem haben, was dem Geist einen Schwung giebt.«[9-215][10-402][10-403]
Französische Gepflogenheiten in Europa
Alexander von Gleichen-Russwurm berichtet 1929 in seinem Werk ›Das Jahrhundert des Barock‹ über Gesellschaft und Sitte im 17. Jahrhundert. Er beschreibt, wie im späten 18. Jahrhundert Paris zum kulturellen Zentrum Europas wurde, und sich infolge dessen der französische Salon in Europa verbreitete. Er wurde in den Niederlanden, in Deutschland, in Spanien und England nachgeahmt. Er durchtränkte das gesamte Leben der höheren Stände mit Bildung oder wenigstens Bildungsbedürfnis. Die vornehme Welt versammelte sich zu Salons in den Häusern großer, angesehener Damen. [2-387] Lassen wir ihn zu Wort kommen, denn wir könnten es nicht besser schreiben; er greift in seinem Überblick auch Manches auf, über das wir bereits berichtet haben; doch es deshalb auszulassen würde seine Zusammenfassung zu sehr zerstören: »Empfänge, bei denen Konversation gemacht wurde, stellte man jetzt nachdrücklich auf Intimität ein. So entstanden die berühmten ›causeries de la ruelle‹, wobei die Dame in ihrem Prunkbett lag. Es stand in der Mitte eines mit Balustraden abgeschlossenen Alkovens und bot rechts und links in der ›ruelle‹ für einige Intime genügend Raum, um des Gesprächs zu pflegen. Solcher Empfang schloß jede versteifende Zeremonie aus, und die gefällige Annahme, die Herrin des Hauses bedürfe der Schonung, bedingte jene leise, graziöse Art der Unterhaltung, die man mit ›causerie‹ bezeichnete. Auf Intimität zielten ebenfalls die kleinen Abendmahlzeiten, ›les petits soupers‹, bei denen man von zeremoniösen Hemmungen möglichst absah. Man saß an kleinen Tischen und stimmte die Gäste zusammen wie die Speisen. Auch dies war eine außerordentliche Neuerung den großen, schwerfälligen Gelagen gegenüber.«[2-388]
»Paris wurde die tonangebende Stadt in Europa; seine Frauen und Kleiderkünstler diktierten die Mode, seine Sitten und Gewohnheiten beherrschten die beste Gesellschaft, die Etikette seines Hofes ahmten die europäischen Herrscher nach. … In der Gesellschaft wird feine Konversation, die sich über alle Fragen des Tages ergeht, Bedürfnis und Gebot. Aber die neue Mode der Konversation schließt, wo sie sich einbürgert, durchaus nicht den Fortschritt in der Gastronomie aus, ja man kann vom 17. Jahrhundert an sogar von einer Wissenschaft des Essens, von Gastrosophie sprechen, wenn es auch wichtiger war, zum Gedankenaustausch als zu Speis’ und Trank geladen zu werden. Zwar nennen die Italiener ihre Empfänge ›Conversazione‹, und bei diesen Gelegenheiten werden nur Erfrischungen gereicht; zwar nimmt die Marquise de Rambouillet als Halbitalienerin diesen Stil der Empfänge auf in ihrem berühmten blauen Salon, aber dennoch wird die ›Science de la gueule‹ mit Verstand verbessert und gepflegt. Die Qualität der Speisen erscheint wichtiger als die Quantität, und diese Qualität zu heben, neue Speisen zu erfinden, vor allem neue Soßen zu rühren, ist sogar nicht unter der Würde großer Herren.«[2-391]
»Kulinarische Ausdrücke der feinen Küche, die heute noch im Gebrauch sind, tragen die Namen von Gastronomen der Barockzeit. So erfand ein Marquis Bechamel die bekannte Soße dieses Namens. Die Freundinnen Ludwigs XIV., nicht zuletzt Mme. de Maintenon, bemühten sich um eine feine Küche, und, von diesen Damen angeregt, entstanden die berühmten ›petits Soupers‹ mit den verschiedensten exquisiten Überraschungen.«[2-392]
»Gekühlte Speisen und Getränke — sie gingen auf antike Traditionen zurück — waren in Italien schon im Gebrauch, ehe sie nach Frankreich und Deutschland durch Feinschmecker unter den Reisenden und durch den Einfluß vornehmer Frauen kamen, die in den Norden heirateten. Nach Augsburg kam dieser Luxus durch venezianische Handelsverbindung, nach München um die Mitte des Jahrhunderts durch das Gefolge der Kurfürstin. Nach Frankreich brachte der Sizilianer Procopio das Gefrorene, oder vielmehr jenes Halbgefrorene, das man in Italien ›granito‹ nennt. Nur sehr verwöhnte Menschen bedienten sich (noch um 1620) gekühlter Getränke, denn in den ›Contes de Gaulard‹ liest man: ›Er aß an einem Sommertag bei einem Genußmenschen zu Abend, der den Wein mit Eis kühlte.‹ Ludwig XIV. gab einem Händler die besondere Erlaubnis, Eis zu verkaufen. Im Jahre 1676 betrug die Zahl der Pariser Limonadiers, die Eis und gekühlte Getränke führten, bereits 250.«[2-394][2-395]
»Um dieselbe Zeit kamen die neuen Getränke auf, die viel dazu beitrugen, das feine Gepräge der ›societe polie‹ zu erhalten. Sie bürgerten sich sehr langsam unter starkem Widerstand ein, kulturell immer einflußreicher, und wurden schließlich aus Luxusgetränken der vornehmen Welt Volksnahrung und Bedürfnis des täglichen Lebens; es sind dies Schokolade (Kakao), Kaffee und Tee. Schokolade hatten die Spanier aus Mexiko gebracht; Maria Theresia, die spanische Gattin Ludwigs XIV., führte sie nach Frankreich ein und ließ sich dies Getränk zuerst heimlich von ihrer Kammerfrau bereiten. Diese plauderte das Geheimnis aus, der König fand Geschmack an der Schokolade, und bald wurde sie in kleinen, feinen Tassen bei Hofeinladungen präsentiert. Wie der Kaffee hatte die Schokolade Feinde, die beiden Genußmitteln schlimme Wirkung zuschrieben, Freunde, die nützliche Heilkräfte in ihnen vermuteten. Mme. de Sevigne und ihre Tochter korrespondierten eifrig über diese Frage. Man war ängstlich dem bitteren, braunen Getränk gegenüber, das Heiden und Türken so gern schlürften, und Ludwig XIV. glaubte noch eine mutige Tat zu vollbringen, als er 1644 zum erstenmal Kaffee trank, den Handelsleute in Marseille aus der Türkei eingeführt hatten. Er schmeckte dem König, und die Stadt Marseille erhielt ein Privileg, den Kaffee einzuführen. Daß er nach Wien und Deutschland durch den Sieg über die Türken kam, ist schon in der kulturpolitischen Übersicht (I. Bd. Kap. 7) erwähnt. Der Pariser Gesellschaft wurde der Kaffee schmackhaft gemacht durch Soliman Aga, der im Jahre 1669 als Botschafter Mahomets IV. am Hofe des Sonnenkönigs akkreditiert war. Die Damen fanden es schick, das Haus des Orientalen zu besuchen, auf Kissen am Boden zu sitzen und aus goldenen Täßchen das bittere Getränk zu nehmen, das auszuschlagen für den Botschafter beleidigend gewesen wäre. Wer Anspruch auf Eleganz erhob, mußte Kaffee zu trinken und auf türkische Art zu bereiten verstehen. Die gerösteten Bohnen wurden bis zum Jahre 1687 in Mörsern zerstoßen.«[2-395][2-396]
»Bald gehörte er zu jedem festlichen Ereignis der ›salle a manger‹, einem Gemach, das von nun an — vom Salon getrennt — für die Freuden der Tafel bestimmt und zu diesem Zweck besonders eingerichtet wurde. … In England liebte man bereits den ›dining room‹ mit gemaltem Papier zu tapezieren, eine Neuerung, die erst ein Jahrhundert später das Festland eroberte. Der Luxus des eigenen Speisezimmers, der sich seit der Antike verloren hatte, verbreitete sich desto mehr, je wichtiger das ›Diner‹ im gesellschaftlichen Leben wurde.«[2-397][2-398]
Ähnliches schrieb John Moore in seinem 1779 erschienenen ›Abriß des gesellschaftlichen Lebens und der Sitten in Frankreich, der Schweiz und Deutschland‹, ›A view of society and manners in France, Switzerland and Germany‹ über die Ausbreitung der französischen Sitten: »Wahr ists, die französischen Sitten hat man fast in jedem Europäischen Lande angenommen: sie herrschen in ganz Deutschland, und an den Nordischen Höfe; sie schleichen sich, obgleich langsamer, in Spanien und Italien ein. Aber nicht in England. — Die Englischen Sitten sind in allen Englischen Provinzen allgemein, sie herrschen in der Hauptstadt, und sind sogar am Hofe unvermischt. In allen den oben erwähnten Ländern sieht das Volk überhaupt diesen Vorzug, den man ausländischen Sitten giebt, mit Verdruß an; allein man bekümmert sich in denselben nicht um die Meynung des Volks. — In England hingegen ist Popularität ein wirklich wichtiges Gut; und je höher der Stand eines Mannes ist, jemehr wird er ihren Verlust fühlen. Außerdem sind in England nicht nur gemeine Leute allein wider französische Sitten eingenommen: — sie sind der ganzen Nation verhaßt. Selbst die, die von den gemeinen Vorurtheilen frey sind; — die den Talenten und Verstandeskräften ihrer Nachbarn alle mögliche Gerechtigkeit wiederfahren lassen; — die die französischen Sitten an Franzosen billigen; können es doch nicht leiden, wenn man sie ihren eigenen Landesleuten einimpfen will. Sollte ja diese Art Einimpfung einen Engländer von Stande irgendwo erträglich dünken, so wär’s an einigen von den gemeinsten Leuten, mit denen er einigen Verkehr hat, als an seinem Schneider, Barbier, Kammerdiener oder Koche; — aber nimmermehr an seinem Freunde. Ich kann mich schwerlich auf einen Fall besinnen, daß ein Engländer von Stande, der, in seiner Kleidung oder Lebensart, französische Sitten oder Moden den Englischen vorgezogen hat, dadurch nicht etwas von der Achtung seiner Landsleute verloren hätte. Was ich von französischen Sitten gesagt habe, paßt auch überhaupt auf alle ausländischen Sitten; die insgesammt, gewissermaßen, französisch sind, und deren besondere Abweichungen von den französischen, die Engländer nicht bemerken.«[12-289][12-290][12-291][13-150][13-151]
– »It is true, that the French manners are adopted in almost every country of Europe: they prevail all over Germany and the northern courts. They are gaining ground, though with a slower pace, in Spain, and in the Italian states. — This is not the case in England. — The English manners are universal in the provinces, prevail in the capital, and are to be found uncontaminated even at court. In all the countries above mentioned, the body of the people behold this preference to foreign manners with disguft. But in all those countries, the sentiments of the people are disregarded; whereas, in England, popularity is of real importance; and the higher a man’s rank is, the more he will feel the loss of it. Besides, a prejudice against French manners is not confined to the lower ranks in England: — It is diffused over the whole nation. Even those who have none of the usual prejudices; — who do all manner of justice to the talents and ingenuity of their neighbours; — who approve of French manners in French people; yet cannot suffer them when grafted on their countrymen. Should an English gentleman think this kind of grafting at all admissible, it will be in some of the lowest classes with whom he is connected, as his tailor, barber, valet- de-chambre, or cook; — but never in his friend. I can scarcely remember an instance of an Englishman of fashion, who has evinced in his dress or style of living a preference to French manners, who did not lose by it in the opinion of his countrymen. What I have said of French manners is applicable to foreign manners in general, which are all in some degree French, and the particular differences are not distinguished by the English.«[12-289][12-290][12-291]
Nicht nur die französischen Sitten, sondern auch die französische Sprache war allgegenwärtig. In den ›Briefen eines reisenden Franzosen‹ aus dem Jahr 1784 lesen wir: »Ich fand noch keinen Hof in Deutschland, wo nicht eine fremde Sprache herrschte. Die Hofleute, Sachsen ausgenommen, sprechen gemeiniglich ihre Muttersprache am schlechtesten, so erbärmlich auch ihr französisches oder italiänisches Jargon ist. Ohne die französische Sprache kömmt einer nicht einmal an den deutschen Höfen fort. An den meisten derselben hält man es für unanständig und pöbelhaft, seine Muttersprache zu sprechen.«[9-424][17-155]
Wie sehr auch die Kultur der Kaffee-Empfänge Deutschland durchdrungen hatte, nicht nur in Form eines abendlichen Salons, sondern ganz allgemein als ein nachmittägliches Treffen, verbunden mit allen ökonomischen Nachteilen, belegt der Eintrag zum Kaffee in Johann Georg Krünitz‘ Oeconomischen Encyclopädie aus dem Jahr 1784. Der Autor berichtet: »Ausser dem neuen Aufwande, den der Kaffe veranlaßt hat, ist die zweyte Veränderung, die er in dem ökonomischen Zustande der Menschen gewirkt hat, die, daß er die Nachmittagsbesuche, oder so genannten Kaffe=Visiten, theils eingeführt, theils vervielfältiget hat. Nach dem Zeugnisse der Alten waren ehemahls die Besuche, welche Männer einander gaben, Amts= oder freundschaftliche Besuche. Jene gingen fast immer ohne Kosten nach verabredeten Geschäften wieder zu Ende, und diese waren nur unter sehr guten Freunden oder nahen Verwandten gebräuchlich, selten häufig, und mehr des Abends, als Nachmittags, gewöhnlich. Uebrigens kam man im Sommer zur Bewegung in Gärten, und im Winter in öffentlichen Häusern, zusammen, und versparte die kostbaren Versammlungen auf Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnisse, und andere Familienfeste. Und dies waren fast, ausser der kirchlichen Zusammenkunft, die einzigen Gelegenheiten, wobey sich Frauenzimmer, das nicht nahe verwandt oder vernachbart war, einander sah. Die Hausfrau blieb unter den Kindern und Gesinde, und sprach die Base in Familienangelegenheiten, und die Nachbarinn oder Schulbekanntinn in häuslichen, und ging am Sonntage auf ihren Garten oder einen Spazier=Weg. Wie sehr es jetzt anders ist, weiß jedermann. Visiten geben und nehmen, mag in beynahe allen nicht gar zu niedrigen Häusern eingeführt, in manchen ziemlich häufig, und in einigen wohl täglich seyn; und vielleicht ist kaum ein Drittel von Männern vermögend, oder auch geneigt, sich diesen Besuchen zu entziehen. Fragt man die Alten, seit wann dieses so herrschend Mode geworden ist, so antworten sie einmüthig: seit man angefangen hat, Kaffe nachmittags zu trinken, oder ein Getränk gehabt hat, womit man seinen Freunden ein Vergnügen zu machen und eine Ehre zu erweisen gemeint habe. Beyde Vorstellungen haben sich wirklich mit dem Kaffe verbunden. … So offenbar nun diese große Veränderung in dem ökonomischen Zustande der Menschen, daß man jetzt so viele Nachmittage, die sonst ganz anders angewandt wurden, am Kaffetische zubringt, ihren Ursprung vom Kaffe hat: so unläugbar rühren andere wichtige Veränderungen unmittelbar oder mittelbar von ihm her. Die ehemahlige häusliche Arbeitsamkeit muß unstreitig bey häufigen Kaffebesuchen sehr leiden. Es versteht sich nicht allein von selbst, daß weder Herr noch Frau im Haus=Wesen etwas vornehmen können, wenn sie am Kaffetische Besuch haben oder geben, sondern auch die Magd, welche die Visitenstube reinigen, auch wohl heitzen, den Kaffe bereiten, in anständiger Kleidung aufsetzen, wegnehmen, auf die Fremden warten und zu fernern Diensten bereit seyn muß, kann diesen Nachmittag sonst keine Hausarbeit verrichten. Rechnet man bey der Herrschaft die Zeit zum An= und Auskleiden, zum Herausgeben und Wegsetzen der Geräthe, und allenfalls auch die zur kritischen Beurtheilung der vorgefallenen Gespräche mit, so hat auch sie sich den ganzen Nachmittag den häuslichen Geschäften entzogen. Nun kommen dieser Nachmittage jetzt in den meisten Häusern gar viele; muß daher nicht unvermeidlich manche Hausarbeit, die sonst bequem und zur besten Zeit geschehen konnte, unterbleiben, verschoben oder für Tagelohn verrichtet werden? Sichtbare, aber traurige Veränderung in dem ökonomischen Zustande, wenn man jetzt vielleicht nur noch die Hälfte der Arbeiten darin thut, die man sonst that!«[18]
Berliner Salons
Die Salonkultur erreichte schließlich auch Berlin, und in den Salons entwickelte sich eine weltoffene und tolerante Lebenshaltung. Bereits als Sechzehnjähriger, also um 1785, besuchte Alexander von Humboldt zum ersten Mal Markus Herz und seine Frau Henriette. In deren Hause trafen sich das wohlhabende jüdische berliner Bildungsbürgertum und fortschrittliche Adelige zu naturwissenschaftlichen Experimentalvorlesungen, philosophischen Erörterungen und literarischen Lesungen. [20-16][20-17]
Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn lebte von 1729 bis 1786. Sein Einfluß auf die damalige berliner Gesellschaft zählt zu den Höhepunkten der deutschen Geistesgeschichte, denn er trug die Aufklärung in das deutschsprachige Judentum. Diese ›Haskala‹ genannte jüdische Aufklärung war eine spezielle Leistung Berlins, und Teil derselben waren die berliner Salonnièren, die fast alle Repräsentantinnen der jüdischen Aufklärung waren. Die damaligen Zustände werden zusammengefasst mit diesen trefflichen Worten: »Während in der Kleinstadt Weimar ein Musenhof, also das elitäre höfische Leben den Ton angab, waren in Berlin republikanische Tugenden angesagt: in den berühmten Salons, die den Bürgern wie auch dem Adel die Türen für den künstlerischen und intellektuellen Austausch öffneten und einen neuen gesellschaftlichen Stil pflegten; im Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt als einem der zentralen, für alle Gesellschaftsschichten offenen Treffpunkte; in den Königlichen Akademien der Wissenschaften und der Künste, in denen Gelehrte und Künstler zum Diskurs über ihre Werke aufrufen; in der Sing-Akademie zu Berlin, wo Bürger und Adlige, Männer und Frauen zum ersten Mal in der Welt im gemischten Chor gemeinsam sangen. Die sich in Berlin vollziehende Entwicklung hatte grundlegend andere Koordinaten insofern, als es sich hier im Wesentlichen um eine großstädtische Bürgerkultur handelte, also um eine nicht-höfische, sozial offene Bewegung der bürgerlichen Intelligenz. Rekonstruiert man diese Berliner Kulturepoche, zeigt sich eine urbane Kulturphysiognomie der preußischen Hauptstadt, die an Geist und Glanz nie wieder überboten worden ist. In dem geistigen Berlin um 1800 vollzog sich die kulturelle Emanzipation der Bürgerstadt vom Hof, im Hinblick auf das Individuum bedeutete das den Gleichheitsanspruch des Untertans mit dem Bürger. Die Künstler und Gelehrten entwickelten sich unabhängig vom Hof, sie wurden nicht durch diesen protegiert.« [21]
»Ein großes Thema dieser Zeit war die bürgerliche Selbstbestimmung des Individuums. In der preußischen Hauptstadt entstand eine ganz neue bürgerlich-aufgeklärte Salonkultur, die von Henriette Herz begründet und in der weiteren Entwicklung vor allem von Rahel von Varnhagen geprägt wurde. Beide waren Jüdinnen und hatten den Mut, aus ihrem orthodoxen Traditionszusammenhalt auszubrechen. In dem gelehrten, auf Emanzipation versessenen, vielseitig sich entwickelnden Berlin um 1800 öffnete auch Rahel von Varnhagen – inspiriert durch Moses Mendelssohn – 1791/92 als Frau/als Jüdin einen Salon, der ähnlich dem der Henriette Herz von den damaligen Berliner Intellektuellen, Künstlern und Philosophen frequentiert wurde. Adlige, Gelehrte, Künstler, Bürger – alle waren hier vertreten und gaben Zeugnis von der sich abzeichnenden Auflösung der Ständegesellschaft. In Berlin um 1800 entwickelte sich eine Zivilgesellschaft selbstbestimmter Individuen, hier herrschte eine emanzipierte städtische Diskursethik, hier musste kein Künstler oder Gelehrter nobilitiert oder alimentiert werden. Die Berliner Kulturblüte um 1800 war aus einer großstädtischen bürgerlichen Emanzipationsbewegung hervorgegangen, deren Repräsentanten alle auf eine jeweils eigene Art urban geprägt waren. Sie alle kennzeichnete der Mut zum Experiment, herausragende Kreativität und das Generieren einer Fülle innovativer Ideen. Die preußische Hauptstadt, die damals zu den größten Städten Europas gehörte, war das Zentrum der Emanzipation der Juden, ihrer Assimilation in die deutsche Kultur. Berlin war der Ort der Haskala, der jüdischen Aufklärung und das Eintrittstor der Juden in die säkulare Welt Westeuropas. Berlin war zugleich der Brennpunkt einer hohen politisch-ästhetischen Diskussionskultur der damals aktuellen Themen: die durch die Französische Revolution gebotenen Fortschrittschancen und Fehlentwicklungen, die Politik Napoleons, die Institution der Monarchie, bürgerliche Selbstbestimmung, die Gleichstellung der Juden, die aufbrechenden geistesgeschichtlichen Differenzen zwischen Klassik und Romantik, die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Viele der singulären Kunst- und Kulturleistungen der Berliner Klassik sind noch heute eindrucksvoll gegenwärtig. Die großen idealistischen Ideengebäude der Zeit um 1800 allerdings, die eine neue, moderne Gesellschaft projektierten, gerieten schnell zu einem Zukunftstraum. Auch in Berlin. Grundlegende politische Veränderungen sind weder von Friedrich Wilhelm II. noch von Friedrich Wilhelm III. vollzogen worden. Während Schinkel als „Veredler aller menschlichen Verhältnisse“ viele seiner Architekturentwürfe in Berlin realisieren konnte, blieb die aufgeklärte Gesellschaft, für die er sie konzipiert hatte, weitgehend Illusion. Ihr war nur ein kurzes Zwischenspiel vergönnt. Der nationale Aufbruch bekam Gegenwind. Die Reformbewegungen wurden in der Zeit der Restauration (Wiener Kongress 1815; Karlsbader Beschlüsse 1819/Aktualisierung 1824; Demagogenverfolgung 1832) erstickt: Ihr Ziel war die Wiederherstellung der politischen Machtverhältnisse des Ancien Régime, von Verhältnissen also, wie sie Europa vor der Französischen Revolution gekennzeichnet haben. Alle Freiheitsbestrebungen wurden Opfer der Repression. Der Kampf um eine Verfassung, für eine Nation, für bürgerliche Freiheiten, für eine auf Vernunft gegründete Verwaltung, die das große Modernisierungsprogramm der Reformer umsetzen sollte, scheiterte. Das in Preußen angelaufene Reformrad wurde zurückgedreht, Deutschland wurde weder als Nation geeint noch erneuert. Die zukunftsorientierten Emanzipationskonzepte der Welterklärung und Weltveränderung, die an der von Wilhelm von Humboldt 1810 gegründeten Berliner Universität und in ihrem Umfeld ersonnen und diskutiert wurden, blieben zur damaligen Zeit weitgehend Wunschträume. Ihre Wirkung entfalteten sie erst sehr viel später. Auch die jüdischen Salons, in denen die Idee einer Symbiose von Preußentum und Judentum auf einen glanzvollen Höhepunkt zuzusteuern schien, waren nur ein funkelndes Intermezzo in der Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen.« [21]
Die Erfindung der ›Dame‹
Wieso konnten Salons in Europa überhaupt entstehen? Was war wirklich die Voraussetzung dafür, daß Catherine de Rambouillet ihren ersten Salon in Paris halten konnte? Es hilft hier vielleicht ein Blick von außen, um wirklich zu verstehen, wie sich Europa vom Rest der Welt unterscheidet. Prinz Asfa-Wossen Asserate beschreibt in seinem Buch ›Manieren‹ trefflich, wie es dazu kommen konnte; er drückt es so gut aus, wie wir es mit eigenen Worten nicht sagen könnten, weshalb wir ihn manches Mal in dieser Zusammenfassung zu Wort kommen lassen.
»Wenn man sich als Afrikaner fragt, was die Angel ist, um die sich das gesamte System der europäischen Manieren dreht, fällt die Antwort nicht schwer. Was die Europäer von allen anderen Kulturen der Welt unterscheidet, ist die Rolle, die sie der Frau zugewiesen haben. Oder man sollte vielleicht besser sagen: die Erfindung der ›Dame‹. Vermutlich ist dies Faktum dem Leser derart selbstverständlich, daß er den Nachdruck, den ich auf diesen Punkt lege, nicht recht versteht.« [19-46] So beginnt er sein Kapitel ›Die Dame‹.
Die Ursprünge liegen im Minnesang und Minnedienst französischer Troubadoure. Diese basieren auf arabischen Wurzeln, doch dort entwickelte sich daraus nicht das Ideal einer muslimischen Dame, obwohl auch die arabischen Liebesdichtungen »ebenso in der Vollkommenheit der Angebeteten wie in ihrer Ferne und Unerreichbarkeit« schwelgten, »und in dieses Schmachten mischten sich immer auch religiöse Motive, die das Liebesleid und die Verehrung der Geliebten in eine Beziehung zu der Verehrung Gottes und der Sehnsucht nach ihm setzten.« [19-47]
Die Troubadoure hatten es nicht leicht, ihre Position in der Gesellschaft zu finden. Als Künstler und Dichter waren Frauen höheren Standes für sie unerreichbar. So machten sie ihre sozial bedrückende Situation zu einer existentiellen. »Sie machten die ihnen versagten Frauen noch viel unerreichbarer und sahen gerade darin nun deren eigentlichen Wert. Die Vergeblichkeit wurde zum Lebenssymbol, die unerfüllte Sehnsucht zum literarischen Motor.« [19-47][19-48]
Was in Europa hinzukam, war die Marienverehrung, die im frühen Mittelalter einen Höhepunkt erreichte. Doch das war auch im Osten, in Byzanz und Äthiopien, seit vielen Jahrhunderten nichts Neues. Durch die Marienverehrung wurde die Frau zur Krönung der Schöpfung, denn Maria galt als der erste vollkommene Mensch. Sie wurde zur ›domina‹, zur Herrin an sich, und erhielt die Anrede adliger italienischer Damen: ›Madonna‹. [19-48]
»Warum aber die christliche Religion mit ihrer Verehrung der heiligen Jungfrau gerade in Frankreich diesen sozialen Effekt hatte, daß von der Makellosigkeit und Königlichkeit Mariens ein kräftiger Strahl auf alle Frauen fiel, vor allem aber auf die ›Damen‹, und eben nicht in Byzanz oder Alexandria mit ihrer ungleich tiefer verwurzelten Marienverehrung, das ist damit noch nicht geklärt. Die ›Dame‹ ist unerklärlich.« [19-48][19-49]
In allen Gesellschaften wird Macht verehrt; »was aber genuin europäisch ist, ist das Hinzutreten der Ohn-Machtverehrung in Gestalt der Dame. Die Dame ist die Königin ihres Kreises, alles geschieht nach ihren Wünschen, die nie Befehle sind, alles bemüht sich, ihr zu gefallen, jede Aufmerksamkeit ist ihr geschuldet – aber nicht weil sie stark, sondern weil sie schwach ist. … Der Gedanke ist unabweisbar, daß dieser Gegensatz ohne christlichen Hintergrund nicht vorstellbar wäre.« [19-49]
»Europäischer Gesellschaftsbetrieb ist ohne Dame schwer vorstellbar. Bis zum Ersten Weltkrieg waren Veranstaltungen ohne Damen zweitrangig.« [19-49]»Ohne die Damen kam das gesellschaftliche Ritual nicht in Gang. Es fehlte sein eigentliches Ziel: die Verehrung der Dame. Der westliche Europäer hat sich eine Kunstfigur geschaffen, die in der Realität zwar äußerst selten anzutreffen ist, ihren Glanz aber auf die realen Frauen mit verbreitet.« [19-50]
»Welche Eigenschaften aber zeichnen eine Dame, das rätselhafte Wesen, nun aus? Sie ist ein höheres, edleres Wesen. Sie ist vollkommener als Männer und Frauen. Sie ist die allzeit Unschuldige, immer schon irgendwie Gerechtfertigte. Sie ist schön – wenn sie nicht schön ist, ist sie in all ihren Bewegungen und Haltungen, die Art, wie sie spricht, wie sie sich schminkt, wie sie ißt (beinahe nichts), wie sie sich anzieht und wie sie denkt, gähnt, hüstelt, lächelt, so viel geformter als normale Menschen, daß ihr das Recht auf Schönheit dennoch zufliegt. Sie empfängt die Verehrung, die ihr entgegengebracht wird, halb freundlich, halb zerstreut, denn sie kennt es gar nicht anders. Die Dame fordert nichts und erhält alles. Deshalb muß sie keinen Ehrgeiz und keine Ellenbogentechniken entwickeln. Das macht die Gegenwart der Dame angenehm.« [19-50]
»Wie verhalten sich die Männer (und jungen Mädchen) in ihrer Gegenwart? Die Dame selbst verharrt in großer Ruhe, aber um sie herum summt es wie ein gedämpfter Bienenschwarm.« [19-51]
»Es gab natürlich hundertundeine Regel, was eine Dame tue und was sie nicht tue. Nur: Diese Regeln machten eine Frau noch lange nicht zur Dame. Die Dame hielt keine Regeln ein, sie stellte welche auf, denen sie selbst natürlich nicht unterworfen war. Sie konnte eigentlich keine Fehler machen. Sie konnte schwere Sünden begehen, aber sie hörte nie auf, Dame zu sein. Eklatante Regelverletzungen gehörten sogar ganz ausdrücklich zu ihren Privilegien. Oft löste sie damit Empörung aus, oft begegnete sie ernstem Widerstand, aber das änderte nichts daran, daß sie eine Dame war und daß jeder das wußte. Die Barockzeit, die letzte Hochblüte der Dame, ist voll von Biographien aufsässiger, unzähmbarer, anarchischer Damen, die jeden Versuch, sie unter eine Ordnung zu zwingen, mit einem Terror beantworteten, der selbst Könige verlegen klein beigeben ließ.« [19-52][19-53]
»Aus allem bisher Gesagten ist klar, daß dies ideal es im zwanzigsten Jahrhundert nicht leicht gehabt haben kann. Eigentlich jede erdenkliche Strömung dieser Ära war damenfeindlich: der Kommunismus und der Nationalsozialismus, der Sozialismus und die Diktatur jeglicher Art, die Demokratie und der Kapitalismus, die Jugendbewegungen der verschiedenen Jahrzehnte vor, zwischen und nach den großen Kriegen, die Kriege selbst vor allem, die moderne Arbeitszivilisation, die Gleichheit und die Emanzipation der Frau. Vom Mann beschützt und verehrt zu werden zu sollen wurde ein für viele Frauen geradezu beleidigender Gedanke. Das Klassenideal der Dame sank mit der dazugehörenden Klasse dahin. Die Arbeit in den Fabriken und Büros an der Seite der Männer, die nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern vor allem auch ein Lebensstil geworden ist, macht die Realisierung dieses Damenideals zur schieren Unmöglichkeit.« [19-55]
Asfa-Wossen Asserate führt dann noch an, daß es ohne dieses Ideal der Dame auch keinen Feminismus geben hätte, »der doch eigentlich zunächst ein Aufstand gegen die Dame als Monument der Ungleichheit der Geschlechter war.« [19-56]
Er beendet sein Kapitel mit den Worten »Die Dame entsprach dem alten feudalen Konzept einer Hegung und Zähmung der Macht durch die Erziehung der Mächtigen, nicht durch veränderbare Gesetze von schwankender Autorität. Hoch über der Pyramide der kleinen und großen Vasallen und der Krone, über zähnefletschenden Löwen, bedrohlichen Adlern und tollwütigen Keilern stand die Frau, waffenlos, mit Rose und Taschentuch. Sie war das Wunder der europäischen Kultur, und man muß vielleicht außerhalb Europas geboren sein, um dies Wunder wirklich würdigen zu können.« [19-62]
Eine weitere wichtige Grundlage für die Verbreitung des Pousse Cafés in der Gesellschaft ist auch die allgemein erschwingliche Verfügbarkeit von Zucker und Likör. Damit beschäftigen wir uns im nächsten Teil dieser Serie.
www.kruenitz1.uni-trier.de/xxx/c/kc02360.htm Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft. in alphabetischer Ordnung. Darin: KAFFE
Asfa-Wossen Asserate: Manieren. 226. Band der Anderen Bibliothek. ISBN 3-8218-4539-2. Oktober 2003.
Frank Holl: Alexander von Humboldt. Mein vielbewegtes Leben. Der Forscher über sich und seine Werke. ISBN 978-3-8218-5847-0. Frankfurt am Main, 2009.
Nicht nur den Kaffeehäusern kam eine wichtige gesellschaftliche Rolle zu, sondern auch dem Salon. Beide sind für die Geschichte des Pousse Cafés wichtig, weshalb sich dieser Beitrag dieser Serie näher mit dem Entstehen und der Bedeutung des Salons beschäftigt.
Der Begriff ›Salon‹
Der Begriff ›Salon‹ ist erstmals im Jahr 1664 nachweisbar und leitet sich vom italienischen Wort ›salone‹ ab, welches wörtlich übersetzt ›großer Saal‹ bedeutet. [1] In den Nachträgen zur ersten Ausgabe des Brockhaus‘ aus dem Jahr 1811 wird definiert: »Der Salon (a. d. Franz.) heißt bekanntermaaßen ein großer Saal in Palästen oder großen Gebäuden, welcher zur Gesellschaft, zum Ball &c. bestimmt ist. In Frankreich wurden ehedem Salons gewisse literarische und ästhetische Zirkel genannt, wo man sich zu feinen geistreichen Unterhaltungen versammelte, und wo öfters die merkwürdigsten Erscheinungen in der Literatur sowol als in der Politik aufs lebhafteste besprochen wurden. Meistentheils standen diese Salons unter der Leitung einer schönen geistreichen Frau, in deren Hause sich dann öfters die ausgezeichnetsten Personen aus allen Ständen versammelten.« [16-339]
Catherine de Rambouillet
Catherine de Rambouillet war für ihren Salon bekannt, den sie im Hôtel de Rambouillet von 1608 bis zu ihrem Tod im Jahr 1665 führte. Das Hôtel befand sich unweit des Louvres, in der Rue Saint-Thomas-du-Louvre, zwischen dem Louvre und den Tuilerien gelegen. Dieses Haus, das sie von ihrem Vater ererbt hatte, ließ sie nach selbst entworfenen Plänen umgestalten, damit es Räume enthielte, die für Empfänge geeignet seien. [3] [4] Hier trafen sich geistig interessierte Hochadelige, Kleinadelige und bürgerliche Intellektuelle. Sie sorgte auch für die Anwesenheit adliger Damen und junger Mädchen. Dieser Kreis übte sich in geistreicher Konversation galanter Gelegenheitsdichtung. Die Ausdrucksweisen dieses Kreises wirkten in die pariser Gesellschaft und die Literatur hinein, wo sie bald nachgeahmt oder auch belächelt wurden. [11]
Im Hôtel de Rambouillet befand sich auch das sogenannte ›blaue Zimmer‹, in dem sie auf einem Bett liegend Schöngeister, Literaten und große Persönlichkeiten ihrer Zeit zur ›Ruelle‹ empfing. [3]
Die Bezeichnung ›Ruelle‹ bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie ›Sträßlein‹ oder ›Gasse‹. Sie war eine Sonderform des Salons, und man verstand darunter das als Empfangsraum genutzte Schlafgemach hochgestellter Damen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu einem normalen Salon bot die Ruelle einen intimeren Rahmen für sozial-schöngeistige Zusammenkünfte. [5]
»Man spricht dort gelehrt, aber man spricht vernünftig, und es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem es mehr gesunden Menschenverstand und weniger Galanterie gibt.« [3]
– »On y parle savamment, mais on y parle raisonnablement et il n’y a lieu au monde où il y ait plus de bon sens et moins de galanterie.« [3]
So beschrieb der französische Schriftsteller, Wegbereiter der französischen Klassik, Kulturpolitiker und Gründungsmitglied der Académie française, Jean Chapelain das Hôtel de Rambouillet. [3] [6] Dort traf sich jedoch keine schulmeisterliche Gesellschaft, denn obwohl die Unterhaltungen gerne intellektuell geführt wurden, folgten in der jungen und fröhlichen Welt des Hôtel de Rambouillet Bälle und Vergnügungen aufeinander und es wurden Liebesintrigen gesponnen und gelöst. [3]
Die dort ebenfalls verkehrende französische Schriftstellerin, Madeleine de Scudéry, die zu den bedeutendsten französischen Autoren des 17. Jahrhunderts zählt und die erste französische Autorin war, die auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurde, und später einen eigenen Salon eröffnete, [3] [7] schrieb: »Die Marquise hat die Kunst gefunden, aus einem Platz von mäßiger Größe einen Palast von großer Weite zu machen. Ordnung, Regelmäßigkeit und Sauberkeit herrschen in allen ihren Appartements und an allen ihren Möbeln: Alles ist prächtig und sogar besonders: Die Lampen sind anders als an anderen Orten, ihre Kabinette sind voll von tausend Raritäten, die das Urteilsvermögen derjenigen erkennen lassen, die sie ausgewählt hat. Die Luft ist immer parfümiert, verschiedene prächtige Körbe voller Blumen sorgen für einen ständigen Frühling in ihrem Zimmer, und der Ort, an dem man sie gewöhnlich sieht, ist so angenehm und so gut ausgedacht, daß man glaubt, sich in einer Verzauberung zu befinden.« [3]
– »La marquise a trouvé l’art de faire en une place de médiocre grandeur un palais d’une vaste étendue. L’ordre, la régularité et la propreté sont dans tous ses appartements et à tous ses meubles: tout est magnifique chez elle, et même particulier: les lampes sont différentes des autres lieux, ses cabinets sont plein de mille raretés qui font voir le jugement de celle qui les a choisies. L’air est toujours parfumé, diverses corbeilles magnifiques, pleines de fleurs, font un printemps continuel dans sa chambre, et le lieu où on la voit d’ordinaire est si agréable et si bien imaginé qu’on croit être dans un enchantement.« [3]
Ein anderer Gast berichtete: »Die Größe und Helligkeit des Hôtel de Rambouillet inspirierten uns zu einer geistreichen Konversation. Die Frauen ermunterten und befragten uns. Sie hörten uns zu, und wir ihnen.« [8-11:35]
Ihr Salon wurde auch beschrieben mit den Worten: »Bis Mitternacht wurden Speis und Trank im Überfluß serviert. Viele kamen von weit her, um ihre Gedichte vorzutragen, oder ihre Stücke vorzulesen. Gesang, Musik, Tanz, Spiele. Niemals kam Langeweile auf. Tagsüber kehrten wir zur Marquise und ihrer Ruelle zurück.« [8-14:00]
Wie bedeutend ihr Salon war, ersieht man auch daran, dass ihre Stammgäste die Gründungsmitglieder der Académie française waren. [8-13:05]
Weitere Salons und Ruelles
Dem Vorbild Catherine de Rambouillets folgend wurden in den 1650er Jahren in Paris zahlreiche Salons und Ruelles eröffnet. Diese Art des Empfanges war zu einer Mode unter den Pariserinnen geworden. [8-16:35] Als Beispiel sei Anne-Thérèse de Marguenat de Courcelles genannt, auch bekannt unter dem Namen Marquise de Lambert. Sie eröffnete ihren literarischen Salon im Jahr 1710. Ihr im Hôtel de Nevers gehaltener Salon war zwischen 1710 und 1730 ein allgemeiner Treffpunkt. [8-25:55] Die Marquise berichtete: »Der Schriftsteller Fontenelle, einer meiner treuesten Besucher, stellte einmal folgende Scherzfrage: Was ist der Unterschied zwischen einer Salonnière und einer Uhr? Die eine zeigt uns die Zeit an, die andere läßt sie uns vergessen.« [8-26:53]
Die Salons der damaligen Zeit waren Orte, an denen man Beziehungen knüpfte, und die Salonnièren versuchten sich gegenseitig zu überbieten. [8-27:18] Dabei erlangten sie einigen Einfluß und waren ein Machtzentrum, wie beispielsweise Madame Geoffrin. [8-30:10] Sie war eine Bürgerliche, die Bekanntschaft mit einer Kaiserin machte und mit einem König befreundet war. Ihre Reputation und das europaweite Prestige ihres Salons zog auch angesehene Ausländer in ihren Salon. [8-31:23] [15]
Horace Walpole, ein britischer Schriftsteller, Politiker und Künstler und der 4. Earl of Orford, [14] schrieb: »Die Kunst des gesellschaftlichen Lebens ist eine französische Besonderheit. Es ist verblüffend, wie einflußreich und frei die Frauen hier sind und wie die Männer ihnen gleiches Interesse entgegenbringen.« [8-32:05] In England und Deutschland gab es nichts dergleichen, ebensowenig in Italien oder Spanien. Dort zog sich die sittsame Hausherrin nach dem Dessert zurück, während die Männer unter sich blieben. [8-32:05]
Die Bedeutung des Salons läßt sich so zusammenfassen: »Im 17. und 18. Jahrhundert leisteten in Europa wohlhabende und gebildete Frauen einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation: Sie öffneten ihre Salons für gelehrte und geistreiche Gespräche, durch die sie an der damals noch den Männern vorbehalten Welt des Wissens teilhaben konnten. So wurden sie zu Vorreiterinnen im Kampf um die intellektuelle Unabhängigkeit der Frau.« [8]
Der bereits in einem vorherigen Beitrag zitierte Johann Kaspar Riesbeck beschreibt die Bedeutung der Frauen bei Empfängen in Wien in seinen 1783 erschienenen Briefen in diesem Sinne: »Auf diese Art ist es sehr begreiflich, daß die meisten Gesellschaften hier, welches mir gleich anfangs auffiel, so todt sind. Die Materie vom Theater ist bald erschöpft, und dann hat man zur Unterhaltung des Gesprächs keine Hilfsmittel mehr, als die täglichen Stadtneuigkeiten und schale Bemerkungen darüber. Das Frauenzimmer ist hier allein im Stand, ein gesellschaftliches Gespräche beym Leben zu erhalten. Es sticht durch natürlichen Witz, Lebhaftigkeit und durch mannichfaltige Kenntnisse mit dem hiesigen Mannsvolk erstaunlich stark ab. Ich hab hier in 3 bis 4 ansehnlichen Häusern Bekanntschaft, worin die Herrn in den ersten 5 Minuten am Ende von allem sind, was sie zu sprechen wissen; und ohne Galanterien einzumischen, find ich bey ihren Weibern und Töchtern eine unerschöpfliche Quelle von lebhaftem Gespräche. Es ist wahr, oft wird der Faden des Gesprächs blos durch die natürliche Neugierde des Frauenzimmers fortgesponnen; aber alle Fragen, welche die Neugierde sie thun läßt, verrathen schon einige Bekanntschaft mit dem Gegenstand, worauf sie sich beziehn, oder wenigstens mit dem Gegentheil davon, und sie sammeln dadurch einen Fonds zu neuen Bemerkungen und zur Unterstützung eines neuen Gesprächs. Eben diese Neugierde fehlt den Männern, die überhaupt zu stumpf sind, und zu wenig von allem dem haben, was dem Geist einen Schwung giebt.« [9-215] [10-402] [10-403]
Französische Gepflogenheiten in Europa
Alexander von Gleichen-Russwurm berichtet 1929 in seinem Werk ›Das Jahrhundert des Barock‹ über Gesellschaft und Sitte im 17. Jahrhundert. Er beschreibt, wie im späten 18. Jahrhundert Paris zum kulturellen Zentrum Europas wurde, und sich infolge dessen der französische Salon in Europa verbreitete. Er wurde in den Niederlanden, in Deutschland, in Spanien und England nachgeahmt. Er durchtränkte das gesamte Leben der höheren Stände mit Bildung oder wenigstens Bildungsbedürfnis. Die vornehme Welt versammelte sich zu Salons in den Häusern großer, angesehener Damen. [2-387] Lassen wir ihn zu Wort kommen, denn wir könnten es nicht besser schreiben; er greift in seinem Überblick auch Manches auf, über das wir bereits berichtet haben; doch es deshalb auszulassen würde seine Zusammenfassung zu sehr zerstören: »Empfänge, bei denen Konversation gemacht wurde, stellte man jetzt nachdrücklich auf Intimität ein. So entstanden die berühmten ›causeries de la ruelle‹, wobei die Dame in ihrem Prunkbett lag. Es stand in der Mitte eines mit Balustraden abgeschlossenen Alkovens und bot rechts und links in der ›ruelle‹ für einige Intime genügend Raum, um des Gesprächs zu pflegen. Solcher Empfang schloß jede versteifende Zeremonie aus, und die gefällige Annahme, die Herrin des Hauses bedürfe der Schonung, bedingte jene leise, graziöse Art der Unterhaltung, die man mit ›causerie‹ bezeichnete. Auf Intimität zielten ebenfalls die kleinen Abendmahlzeiten, ›les petits soupers‹, bei denen man von zeremoniösen Hemmungen möglichst absah. Man saß an kleinen Tischen und stimmte die Gäste zusammen wie die Speisen. Auch dies war eine außerordentliche Neuerung den großen, schwerfälligen Gelagen gegenüber.« [2-388]
»Paris wurde die tonangebende Stadt in Europa; seine Frauen und Kleiderkünstler diktierten die Mode, seine Sitten und Gewohnheiten beherrschten die beste Gesellschaft, die Etikette seines Hofes ahmten die europäischen Herrscher nach. … In der Gesellschaft wird feine Konversation, die sich über alle Fragen des Tages ergeht, Bedürfnis und Gebot. Aber die neue Mode der Konversation schließt, wo sie sich einbürgert, durchaus nicht den Fortschritt in der Gastronomie aus, ja man kann vom 17. Jahrhundert an sogar von einer Wissenschaft des Essens, von Gastrosophie sprechen, wenn es auch wichtiger war, zum Gedankenaustausch als zu Speis’ und Trank geladen zu werden. Zwar nennen die Italiener ihre Empfänge ›Conversazione‹, und bei diesen Gelegenheiten werden nur Erfrischungen gereicht; zwar nimmt die Marquise de Rambouillet als Halbitalienerin diesen Stil der Empfänge auf in ihrem berühmten blauen Salon, aber dennoch wird die ›Science de la gueule‹ mit Verstand verbessert und gepflegt. Die Qualität der Speisen erscheint wichtiger als die Quantität, und diese Qualität zu heben, neue Speisen zu erfinden, vor allem neue Soßen zu rühren, ist sogar nicht unter der Würde großer Herren.« [2-391]
»Kulinarische Ausdrücke der feinen Küche, die heute noch im Gebrauch sind, tragen die Namen von Gastronomen der Barockzeit. So erfand ein Marquis Bechamel die bekannte Soße dieses Namens. Die Freundinnen Ludwigs XIV., nicht zuletzt Mme. de Maintenon, bemühten sich um eine feine Küche, und, von diesen Damen angeregt, entstanden die berühmten ›petits Soupers‹ mit den verschiedensten exquisiten Überraschungen.« [2-392]
»Gekühlte Speisen und Getränke — sie gingen auf antike Traditionen zurück — waren in Italien schon im Gebrauch, ehe sie nach Frankreich und Deutschland durch Feinschmecker unter den Reisenden und durch den Einfluß vornehmer Frauen kamen, die in den Norden heirateten. Nach Augsburg kam dieser Luxus durch venezianische Handelsverbindung, nach München um die Mitte des Jahrhunderts durch das Gefolge der Kurfürstin. Nach Frankreich brachte der Sizilianer Procopio das Gefrorene, oder vielmehr jenes Halbgefrorene, das man in Italien ›granito‹ nennt. Nur sehr verwöhnte Menschen bedienten sich (noch um 1620) gekühlter Getränke, denn in den ›Contes de Gaulard‹ liest man: ›Er aß an einem Sommertag bei einem Genußmenschen zu Abend, der den Wein mit Eis kühlte.‹ Ludwig XIV. gab einem Händler die besondere Erlaubnis, Eis zu verkaufen. Im Jahre 1676 betrug die Zahl der Pariser Limonadiers, die Eis und gekühlte Getränke führten, bereits 250.« [2-394] [2-395]
»Um dieselbe Zeit kamen die neuen Getränke auf, die viel dazu beitrugen, das feine Gepräge der ›societe polie‹ zu erhalten. Sie bürgerten sich sehr langsam unter starkem Widerstand ein, kulturell immer einflußreicher, und wurden schließlich aus Luxusgetränken der vornehmen Welt Volksnahrung und Bedürfnis des täglichen Lebens; es sind dies Schokolade (Kakao), Kaffee und Tee. Schokolade hatten die Spanier aus Mexiko gebracht; Maria Theresia, die spanische Gattin Ludwigs XIV., führte sie nach Frankreich ein und ließ sich dies Getränk zuerst heimlich von ihrer Kammerfrau bereiten. Diese plauderte das Geheimnis aus, der König fand Geschmack an der Schokolade, und bald wurde sie in kleinen, feinen Tassen bei Hofeinladungen präsentiert. Wie der Kaffee hatte die Schokolade Feinde, die beiden Genußmitteln schlimme Wirkung zuschrieben, Freunde, die nützliche Heilkräfte in ihnen vermuteten. Mme. de Sevigne und ihre Tochter korrespondierten eifrig über diese Frage. Man war ängstlich dem bitteren, braunen Getränk gegenüber, das Heiden und Türken so gern schlürften, und Ludwig XIV. glaubte noch eine mutige Tat zu vollbringen, als er 1644 zum erstenmal Kaffee trank, den Handelsleute in Marseille aus der Türkei eingeführt hatten. Er schmeckte dem König, und die Stadt Marseille erhielt ein Privileg, den Kaffee einzuführen. Daß er nach Wien und Deutschland durch den Sieg über die Türken kam, ist schon in der kulturpolitischen Übersicht (I. Bd. Kap. 7) erwähnt. Der Pariser Gesellschaft wurde der Kaffee schmackhaft gemacht durch Soliman Aga, der im Jahre 1669 als Botschafter Mahomets IV. am Hofe des Sonnenkönigs akkreditiert war. Die Damen fanden es schick, das Haus des Orientalen zu besuchen, auf Kissen am Boden zu sitzen und aus goldenen Täßchen das bittere Getränk zu nehmen, das auszuschlagen für den Botschafter beleidigend gewesen wäre. Wer Anspruch auf Eleganz erhob, mußte Kaffee zu trinken und auf türkische Art zu bereiten verstehen. Die gerösteten Bohnen wurden bis zum Jahre 1687 in Mörsern zerstoßen.« [2-395] [2-396]
»Bald gehörte er zu jedem festlichen Ereignis der ›salle a manger‹, einem Gemach, das von nun an — vom Salon getrennt — für die Freuden der Tafel bestimmt und zu diesem Zweck besonders eingerichtet wurde. … In England liebte man bereits den ›dining room‹ mit gemaltem Papier zu tapezieren, eine Neuerung, die erst ein Jahrhundert später das Festland eroberte. Der Luxus des eigenen Speisezimmers, der sich seit der Antike verloren hatte, verbreitete sich desto mehr, je wichtiger das ›Diner‹ im gesellschaftlichen Leben wurde.« [2-397] [2-398]
Ähnliches schrieb John Moore in seinem 1779 erschienenen ›Abriß des gesellschaftlichen Lebens und der Sitten in Frankreich, der Schweiz und Deutschland‹, ›A view of society and manners in France, Switzerland and Germany‹ über die Ausbreitung der französischen Sitten: »Wahr ists, die französischen Sitten hat man fast in jedem Europäischen Lande angenommen: sie herrschen in ganz Deutschland, und an den Nordischen Höfe; sie schleichen sich, obgleich langsamer, in Spanien und Italien ein. Aber nicht in England. — Die Englischen Sitten sind in allen Englischen Provinzen allgemein, sie herrschen in der Hauptstadt, und sind sogar am Hofe unvermischt. In allen den oben erwähnten Ländern sieht das Volk überhaupt diesen Vorzug, den man ausländischen Sitten giebt, mit Verdruß an; allein man bekümmert sich in denselben nicht um die Meynung des Volks. — In England hingegen ist Popularität ein wirklich wichtiges Gut; und je höher der Stand eines Mannes ist, jemehr wird er ihren Verlust fühlen. Außerdem sind in England nicht nur gemeine Leute allein wider französische Sitten eingenommen: — sie sind der ganzen Nation verhaßt. Selbst die, die von den gemeinen Vorurtheilen frey sind; — die den Talenten und Verstandeskräften ihrer Nachbarn alle mögliche Gerechtigkeit wiederfahren lassen; — die die französischen Sitten an Franzosen billigen; können es doch nicht leiden, wenn man sie ihren eigenen Landesleuten einimpfen will. Sollte ja diese Art Einimpfung einen Engländer von Stande irgendwo erträglich dünken, so wär’s an einigen von den gemeinsten Leuten, mit denen er einigen Verkehr hat, als an seinem Schneider, Barbier, Kammerdiener oder Koche; — aber nimmermehr an seinem Freunde. Ich kann mich schwerlich auf einen Fall besinnen, daß ein Engländer von Stande, der, in seiner Kleidung oder Lebensart, französische Sitten oder Moden den Englischen vorgezogen hat, dadurch nicht etwas von der Achtung seiner Landsleute verloren hätte. Was ich von französischen Sitten gesagt habe, paßt auch überhaupt auf alle ausländischen Sitten; die insgesammt, gewissermaßen, französisch sind, und deren besondere Abweichungen von den französischen, die Engländer nicht bemerken.« [12-289] [12-290] [12-291] [13-150] [13-151]
– »It is true, that the French manners are adopted in almost every country of Europe: they prevail all over Germany and the northern courts. They are gaining ground, though with a slower pace, in Spain, and in the Italian states. — This is not the case in England. — The English manners are universal in the provinces, prevail in the capital, and are to be found uncontaminated even at court. In all the countries above mentioned, the body of the people behold this preference to foreign manners with disguft. But in all those countries, the sentiments of the people are disregarded; whereas, in England, popularity is of real importance; and the higher a man’s rank is, the more he will feel the loss of it. Besides, a prejudice against French manners is not confined to the lower ranks in England: — It is diffused over the whole nation. Even those who have none of the usual prejudices; — who do all manner of justice to the talents and ingenuity of their neighbours; — who approve of French manners in French people; yet cannot suffer them when grafted on their countrymen. Should an English gentleman think this kind of grafting at all admissible, it will be in some of the lowest classes with whom he is connected, as his tailor, barber, valet- de-chambre, or cook; — but never in his friend. I can scarcely remember an instance of an Englishman of fashion, who has evinced in his dress or style of living a preference to French manners, who did not lose by it in the opinion of his countrymen. What I have said of French manners is applicable to foreign manners in general, which are all in some degree French, and the particular differences are not distinguished by the English.« [12-289] [12-290] [12-291]
Nicht nur die französischen Sitten, sondern auch die französische Sprache war allgegenwärtig. In den ›Briefen eines reisenden Franzosen‹ aus dem Jahr 1784 lesen wir: »Ich fand noch keinen Hof in Deutschland, wo nicht eine fremde Sprache herrschte. Die Hofleute, Sachsen ausgenommen, sprechen gemeiniglich ihre Muttersprache am schlechtesten, so erbärmlich auch ihr französisches oder italiänisches Jargon ist. Ohne die französische Sprache kömmt einer nicht einmal an den deutschen Höfen fort. An den meisten derselben hält man es für unanständig und pöbelhaft, seine Muttersprache zu sprechen.« [9-424] [17-155]
Wie sehr auch die Kultur der Kaffee-Empfänge Deutschland durchdrungen hatte, nicht nur in Form eines abendlichen Salons, sondern ganz allgemein als ein nachmittägliches Treffen, verbunden mit allen ökonomischen Nachteilen, belegt der Eintrag zum Kaffee in Johann Georg Krünitz‘ Oeconomischen Encyclopädie aus dem Jahr 1784. Der Autor berichtet: »Ausser dem neuen Aufwande, den der Kaffe veranlaßt hat, ist die zweyte Veränderung, die er in dem ökonomischen Zustande der Menschen gewirkt hat, die, daß er die Nachmittagsbesuche, oder so genannten Kaffe=Visiten, theils eingeführt, theils vervielfältiget hat. Nach dem Zeugnisse der Alten waren ehemahls die Besuche, welche Männer einander gaben, Amts= oder freundschaftliche Besuche. Jene gingen fast immer ohne Kosten nach verabredeten Geschäften wieder zu Ende, und diese waren nur unter sehr guten Freunden oder nahen Verwandten gebräuchlich, selten häufig, und mehr des Abends, als Nachmittags, gewöhnlich. Uebrigens kam man im Sommer zur Bewegung in Gärten, und im Winter in öffentlichen Häusern, zusammen, und versparte die kostbaren Versammlungen auf Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnisse, und andere Familienfeste. Und dies waren fast, ausser der kirchlichen Zusammenkunft, die einzigen Gelegenheiten, wobey sich Frauenzimmer, das nicht nahe verwandt oder vernachbart war, einander sah. Die Hausfrau blieb unter den Kindern und Gesinde, und sprach die Base in Familienangelegenheiten, und die Nachbarinn oder Schulbekanntinn in häuslichen, und ging am Sonntage auf ihren Garten oder einen Spazier=Weg. Wie sehr es jetzt anders ist, weiß jedermann. Visiten geben und nehmen, mag in beynahe allen nicht gar zu niedrigen Häusern eingeführt, in manchen ziemlich häufig, und in einigen wohl täglich seyn; und vielleicht ist kaum ein Drittel von Männern vermögend, oder auch geneigt, sich diesen Besuchen zu entziehen. Fragt man die Alten, seit wann dieses so herrschend Mode geworden ist, so antworten sie einmüthig: seit man angefangen hat, Kaffe nachmittags zu trinken, oder ein Getränk gehabt hat, womit man seinen Freunden ein Vergnügen zu machen und eine Ehre zu erweisen gemeint habe. Beyde Vorstellungen haben sich wirklich mit dem Kaffe verbunden. … So offenbar nun diese große Veränderung in dem ökonomischen Zustande der Menschen, daß man jetzt so viele Nachmittage, die sonst ganz anders angewandt wurden, am Kaffetische zubringt, ihren Ursprung vom Kaffe hat: so unläugbar rühren andere wichtige Veränderungen unmittelbar oder mittelbar von ihm her. Die ehemahlige häusliche Arbeitsamkeit muß unstreitig bey häufigen Kaffebesuchen sehr leiden. Es versteht sich nicht allein von selbst, daß weder Herr noch Frau im Haus=Wesen etwas vornehmen können, wenn sie am Kaffetische Besuch haben oder geben, sondern auch die Magd, welche die Visitenstube reinigen, auch wohl heitzen, den Kaffe bereiten, in anständiger Kleidung aufsetzen, wegnehmen, auf die Fremden warten und zu fernern Diensten bereit seyn muß, kann diesen Nachmittag sonst keine Hausarbeit verrichten. Rechnet man bey der Herrschaft die Zeit zum An= und Auskleiden, zum Herausgeben und Wegsetzen der Geräthe, und allenfalls auch die zur kritischen Beurtheilung der vorgefallenen Gespräche mit, so hat auch sie sich den ganzen Nachmittag den häuslichen Geschäften entzogen. Nun kommen dieser Nachmittage jetzt in den meisten Häusern gar viele; muß daher nicht unvermeidlich manche Hausarbeit, die sonst bequem und zur besten Zeit geschehen konnte, unterbleiben, verschoben oder für Tagelohn verrichtet werden? Sichtbare, aber traurige Veränderung in dem ökonomischen Zustande, wenn man jetzt vielleicht nur noch die Hälfte der Arbeiten darin thut, die man sonst that!« [18]
Berliner Salons
Die Salonkultur erreichte schließlich auch Berlin, und in den Salons entwickelte sich eine weltoffene und tolerante Lebenshaltung. Bereits als Sechzehnjähriger, also um 1785, besuchte Alexander von Humboldt zum ersten Mal Markus Herz und seine Frau Henriette. In deren Hause trafen sich das wohlhabende jüdische berliner Bildungsbürgertum und fortschrittliche Adelige zu naturwissenschaftlichen Experimentalvorlesungen, philosophischen Erörterungen und literarischen Lesungen. [20-16] [20-17]
Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn lebte von 1729 bis 1786. Sein Einfluß auf die damalige berliner Gesellschaft zählt zu den Höhepunkten der deutschen Geistesgeschichte, denn er trug die Aufklärung in das deutschsprachige Judentum. Diese ›Haskala‹ genannte jüdische Aufklärung war eine spezielle Leistung Berlins, und Teil derselben waren die berliner Salonnièren, die fast alle Repräsentantinnen der jüdischen Aufklärung waren. Die damaligen Zustände werden zusammengefasst mit diesen trefflichen Worten: »Während in der Kleinstadt Weimar ein Musenhof, also das elitäre höfische Leben den Ton angab, waren in Berlin republikanische Tugenden angesagt: in den berühmten Salons, die den Bürgern wie auch dem Adel die Türen für den künstlerischen und intellektuellen Austausch öffneten und einen neuen gesellschaftlichen Stil pflegten; im Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt als einem der zentralen, für alle Gesellschaftsschichten offenen Treffpunkte; in den Königlichen Akademien der Wissenschaften und der Künste, in denen Gelehrte und Künstler zum Diskurs über ihre Werke aufrufen; in der Sing-Akademie zu Berlin, wo Bürger und Adlige, Männer und Frauen zum ersten Mal in der Welt im gemischten Chor gemeinsam sangen. Die sich in Berlin vollziehende Entwicklung hatte grundlegend andere Koordinaten insofern, als es sich hier im Wesentlichen um eine großstädtische Bürgerkultur handelte, also um eine nicht-höfische, sozial offene Bewegung der bürgerlichen Intelligenz. Rekonstruiert man diese Berliner Kulturepoche, zeigt sich eine urbane Kulturphysiognomie der preußischen Hauptstadt, die an Geist und Glanz nie wieder überboten worden ist. In dem geistigen Berlin um 1800 vollzog sich die kulturelle Emanzipation der Bürgerstadt vom Hof, im Hinblick auf das Individuum bedeutete das den Gleichheitsanspruch des Untertans mit dem Bürger. Die Künstler und Gelehrten entwickelten sich unabhängig vom Hof, sie wurden nicht durch diesen protegiert.« [21]
»Ein großes Thema dieser Zeit war die bürgerliche Selbstbestimmung des Individuums. In der preußischen Hauptstadt entstand eine ganz neue bürgerlich-aufgeklärte Salonkultur, die von Henriette Herz begründet und in der weiteren Entwicklung vor allem von Rahel von Varnhagen geprägt wurde. Beide waren Jüdinnen und hatten den Mut, aus ihrem orthodoxen Traditionszusammenhalt auszubrechen. In dem gelehrten, auf Emanzipation versessenen, vielseitig sich entwickelnden Berlin um 1800 öffnete auch Rahel von Varnhagen – inspiriert durch Moses Mendelssohn – 1791/92 als Frau/als Jüdin einen Salon, der ähnlich dem der Henriette Herz von den damaligen Berliner Intellektuellen, Künstlern und Philosophen frequentiert wurde. Adlige, Gelehrte, Künstler, Bürger – alle waren hier vertreten und gaben Zeugnis von der sich abzeichnenden Auflösung der Ständegesellschaft. In Berlin um 1800 entwickelte sich eine Zivilgesellschaft selbstbestimmter Individuen, hier herrschte eine emanzipierte städtische Diskursethik, hier musste kein Künstler oder Gelehrter nobilitiert oder alimentiert werden. Die Berliner Kulturblüte um 1800 war aus einer großstädtischen bürgerlichen Emanzipationsbewegung hervorgegangen, deren Repräsentanten alle auf eine jeweils eigene Art urban geprägt waren. Sie alle kennzeichnete der Mut zum Experiment, herausragende Kreativität und das Generieren einer Fülle innovativer Ideen. Die preußische Hauptstadt, die damals zu den größten Städten Europas gehörte, war das Zentrum der Emanzipation der Juden, ihrer Assimilation in die deutsche Kultur. Berlin war der Ort der Haskala, der jüdischen Aufklärung und das Eintrittstor der Juden in die säkulare Welt Westeuropas. Berlin war zugleich der Brennpunkt einer hohen politisch-ästhetischen Diskussionskultur der damals aktuellen Themen: die durch die Französische Revolution gebotenen Fortschrittschancen und Fehlentwicklungen, die Politik Napoleons, die Institution der Monarchie, bürgerliche Selbstbestimmung, die Gleichstellung der Juden, die aufbrechenden geistesgeschichtlichen Differenzen zwischen Klassik und Romantik, die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Viele der singulären Kunst- und Kulturleistungen der Berliner Klassik sind noch heute eindrucksvoll gegenwärtig. Die großen idealistischen Ideengebäude der Zeit um 1800 allerdings, die eine neue, moderne Gesellschaft projektierten, gerieten schnell zu einem Zukunftstraum. Auch in Berlin. Grundlegende politische Veränderungen sind weder von Friedrich Wilhelm II. noch von Friedrich Wilhelm III. vollzogen worden. Während Schinkel als „Veredler aller menschlichen Verhältnisse“ viele seiner Architekturentwürfe in Berlin realisieren konnte, blieb die aufgeklärte Gesellschaft, für die er sie konzipiert hatte, weitgehend Illusion. Ihr war nur ein kurzes Zwischenspiel vergönnt. Der nationale Aufbruch bekam Gegenwind. Die Reformbewegungen wurden in der Zeit der Restauration (Wiener Kongress 1815; Karlsbader Beschlüsse 1819/Aktualisierung 1824; Demagogenverfolgung 1832) erstickt: Ihr Ziel war die Wiederherstellung der politischen Machtverhältnisse des Ancien Régime, von Verhältnissen also, wie sie Europa vor der Französischen Revolution gekennzeichnet haben. Alle Freiheitsbestrebungen wurden Opfer der Repression. Der Kampf um eine Verfassung, für eine Nation, für bürgerliche Freiheiten, für eine auf Vernunft gegründete Verwaltung, die das große Modernisierungsprogramm der Reformer umsetzen sollte, scheiterte. Das in Preußen angelaufene Reformrad wurde zurückgedreht, Deutschland wurde weder als Nation geeint noch erneuert. Die zukunftsorientierten Emanzipationskonzepte der Welterklärung und Weltveränderung, die an der von Wilhelm von Humboldt 1810 gegründeten Berliner Universität und in ihrem Umfeld ersonnen und diskutiert wurden, blieben zur damaligen Zeit weitgehend Wunschträume. Ihre Wirkung entfalteten sie erst sehr viel später. Auch die jüdischen Salons, in denen die Idee einer Symbiose von Preußentum und Judentum auf einen glanzvollen Höhepunkt zuzusteuern schien, waren nur ein funkelndes Intermezzo in der Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen.« [21]
Die Erfindung der ›Dame‹
Wieso konnten Salons in Europa überhaupt entstehen? Was war wirklich die Voraussetzung dafür, daß Catherine de Rambouillet ihren ersten Salon in Paris halten konnte? Es hilft hier vielleicht ein Blick von außen, um wirklich zu verstehen, wie sich Europa vom Rest der Welt unterscheidet. Prinz Asfa-Wossen Asserate beschreibt in seinem Buch ›Manieren‹ trefflich, wie es dazu kommen konnte; er drückt es so gut aus, wie wir es mit eigenen Worten nicht sagen könnten, weshalb wir ihn manches Mal in dieser Zusammenfassung zu Wort kommen lassen.
»Wenn man sich als Afrikaner fragt, was die Angel ist, um die sich das gesamte System der europäischen Manieren dreht, fällt die Antwort nicht schwer. Was die Europäer von allen anderen Kulturen der Welt unterscheidet, ist die Rolle, die sie der Frau zugewiesen haben. Oder man sollte vielleicht besser sagen: die Erfindung der ›Dame‹. Vermutlich ist dies Faktum dem Leser derart selbstverständlich, daß er den Nachdruck, den ich auf diesen Punkt lege, nicht recht versteht.« [19-46] So beginnt er sein Kapitel ›Die Dame‹.
Die Ursprünge liegen im Minnesang und Minnedienst französischer Troubadoure. Diese basieren auf arabischen Wurzeln, doch dort entwickelte sich daraus nicht das Ideal einer muslimischen Dame, obwohl auch die arabischen Liebesdichtungen »ebenso in der Vollkommenheit der Angebeteten wie in ihrer Ferne und Unerreichbarkeit« schwelgten, »und in dieses Schmachten mischten sich immer auch religiöse Motive, die das Liebesleid und die Verehrung der Geliebten in eine Beziehung zu der Verehrung Gottes und der Sehnsucht nach ihm setzten.« [19-47]
Die Troubadoure hatten es nicht leicht, ihre Position in der Gesellschaft zu finden. Als Künstler und Dichter waren Frauen höheren Standes für sie unerreichbar. So machten sie ihre sozial bedrückende Situation zu einer existentiellen. »Sie machten die ihnen versagten Frauen noch viel unerreichbarer und sahen gerade darin nun deren eigentlichen Wert. Die Vergeblichkeit wurde zum Lebenssymbol, die unerfüllte Sehnsucht zum literarischen Motor.« [19-47] [19-48]
Was in Europa hinzukam, war die Marienverehrung, die im frühen Mittelalter einen Höhepunkt erreichte. Doch das war auch im Osten, in Byzanz und Äthiopien, seit vielen Jahrhunderten nichts Neues. Durch die Marienverehrung wurde die Frau zur Krönung der Schöpfung, denn Maria galt als der erste vollkommene Mensch. Sie wurde zur ›domina‹, zur Herrin an sich, und erhielt die Anrede adliger italienischer Damen: ›Madonna‹. [19-48]
»Warum aber die christliche Religion mit ihrer Verehrung der heiligen Jungfrau gerade in Frankreich diesen sozialen Effekt hatte, daß von der Makellosigkeit und Königlichkeit Mariens ein kräftiger Strahl auf alle Frauen fiel, vor allem aber auf die ›Damen‹, und eben nicht in Byzanz oder Alexandria mit ihrer ungleich tiefer verwurzelten Marienverehrung, das ist damit noch nicht geklärt. Die ›Dame‹ ist unerklärlich.« [19-48] [19-49]
In allen Gesellschaften wird Macht verehrt; »was aber genuin europäisch ist, ist das Hinzutreten der Ohn-Machtverehrung in Gestalt der Dame. Die Dame ist die Königin ihres Kreises, alles geschieht nach ihren Wünschen, die nie Befehle sind, alles bemüht sich, ihr zu gefallen, jede Aufmerksamkeit ist ihr geschuldet – aber nicht weil sie stark, sondern weil sie schwach ist. … Der Gedanke ist unabweisbar, daß dieser Gegensatz ohne christlichen Hintergrund nicht vorstellbar wäre.« [19-49]
»Europäischer Gesellschaftsbetrieb ist ohne Dame schwer vorstellbar. Bis zum Ersten Weltkrieg waren Veranstaltungen ohne Damen zweitrangig.« [19-49] »Ohne die Damen kam das gesellschaftliche Ritual nicht in Gang. Es fehlte sein eigentliches Ziel: die Verehrung der Dame. Der westliche Europäer hat sich eine Kunstfigur geschaffen, die in der Realität zwar äußerst selten anzutreffen ist, ihren Glanz aber auf die realen Frauen mit verbreitet.« [19-50]
»Welche Eigenschaften aber zeichnen eine Dame, das rätselhafte Wesen, nun aus? Sie ist ein höheres, edleres Wesen. Sie ist vollkommener als Männer und Frauen. Sie ist die allzeit Unschuldige, immer schon irgendwie Gerechtfertigte. Sie ist schön – wenn sie nicht schön ist, ist sie in all ihren Bewegungen und Haltungen, die Art, wie sie spricht, wie sie sich schminkt, wie sie ißt (beinahe nichts), wie sie sich anzieht und wie sie denkt, gähnt, hüstelt, lächelt, so viel geformter als normale Menschen, daß ihr das Recht auf Schönheit dennoch zufliegt. Sie empfängt die Verehrung, die ihr entgegengebracht wird, halb freundlich, halb zerstreut, denn sie kennt es gar nicht anders. Die Dame fordert nichts und erhält alles. Deshalb muß sie keinen Ehrgeiz und keine Ellenbogentechniken entwickeln. Das macht die Gegenwart der Dame angenehm.« [19-50]
»Wie verhalten sich die Männer (und jungen Mädchen) in ihrer Gegenwart? Die Dame selbst verharrt in großer Ruhe, aber um sie herum summt es wie ein gedämpfter Bienenschwarm.« [19-51]
»Es gab natürlich hundertundeine Regel, was eine Dame tue und was sie nicht tue. Nur: Diese Regeln machten eine Frau noch lange nicht zur Dame. Die Dame hielt keine Regeln ein, sie stellte welche auf, denen sie selbst natürlich nicht unterworfen war. Sie konnte eigentlich keine Fehler machen. Sie konnte schwere Sünden begehen, aber sie hörte nie auf, Dame zu sein. Eklatante Regelverletzungen gehörten sogar ganz ausdrücklich zu ihren Privilegien. Oft löste sie damit Empörung aus, oft begegnete sie ernstem Widerstand, aber das änderte nichts daran, daß sie eine Dame war und daß jeder das wußte. Die Barockzeit, die letzte Hochblüte der Dame, ist voll von Biographien aufsässiger, unzähmbarer, anarchischer Damen, die jeden Versuch, sie unter eine Ordnung zu zwingen, mit einem Terror beantworteten, der selbst Könige verlegen klein beigeben ließ.« [19-52] [19-53]
»Aus allem bisher Gesagten ist klar, daß dies ideal es im zwanzigsten Jahrhundert nicht leicht gehabt haben kann. Eigentlich jede erdenkliche Strömung dieser Ära war damenfeindlich: der Kommunismus und der Nationalsozialismus, der Sozialismus und die Diktatur jeglicher Art, die Demokratie und der Kapitalismus, die Jugendbewegungen der verschiedenen Jahrzehnte vor, zwischen und nach den großen Kriegen, die Kriege selbst vor allem, die moderne Arbeitszivilisation, die Gleichheit und die Emanzipation der Frau. Vom Mann beschützt und verehrt zu werden zu sollen wurde ein für viele Frauen geradezu beleidigender Gedanke. Das Klassenideal der Dame sank mit der dazugehörenden Klasse dahin. Die Arbeit in den Fabriken und Büros an der Seite der Männer, die nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern vor allem auch ein Lebensstil geworden ist, macht die Realisierung dieses Damenideals zur schieren Unmöglichkeit.« [19-55]
Asfa-Wossen Asserate führt dann noch an, daß es ohne dieses Ideal der Dame auch keinen Feminismus geben hätte, »der doch eigentlich zunächst ein Aufstand gegen die Dame als Monument der Ungleichheit der Geschlechter war.« [19-56]
Er beendet sein Kapitel mit den Worten »Die Dame entsprach dem alten feudalen Konzept einer Hegung und Zähmung der Macht durch die Erziehung der Mächtigen, nicht durch veränderbare Gesetze von schwankender Autorität. Hoch über der Pyramide der kleinen und großen Vasallen und der Krone, über zähnefletschenden Löwen, bedrohlichen Adlern und tollwütigen Keilern stand die Frau, waffenlos, mit Rose und Taschentuch. Sie war das Wunder der europäischen Kultur, und man muß vielleicht außerhalb Europas geboren sein, um dies Wunder wirklich würdigen zu können.« [19-62]
Eine weitere wichtige Grundlage für die Verbreitung des Pousse Cafés in der Gesellschaft ist auch die allgemein erschwingliche Verfügbarkeit von Zucker und Likör. Damit beschäftigen wir uns im nächsten Teil dieser Serie.
Quellen
Portrait of Henriette Herz, 1792.
explicit capitulum
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