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Die soziokulturelle Geschichte des Pousse Cafés. Teil 6: Zucker und Likör

Titelbild Zucker und Likör.

Bevor wir uns näher mit dem Chasse Café und dem Pousse Café beschäftigen und betrachten, wie sie in die Gesellschaft eingebunden waren, müssen wir uns zunächst dem Zucker- und Likörkonsum zuwenden, denn erst deren allgemeine Verfügbarkeit war die Grundlage für die Verbreitung des Pousse Cafés, so wie wir ihn heute kennen.

Antoine Galland und andere erwähnen, dass es die Christen in Konstantinopel und insbesondere die Griechen waren, die die Gewohnheit übernommen hatten, den Kaffee zu süßen: [10-26] »Die Orientalen trinken den ganzen Tag über Kaffee, bis zu drei oder vier Unzen pro Tag; sie machen ihn dickflüssig und trinken ihn heiß in kleinen Tassen, ohne Milch oder Zucker, aber mit Nelken, Zimt, Kümmel oder Amberesszenz aromatisiert.« [11-57]

Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café. 1836, Seite 57.
Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café. 1836, Seite 57. [11-57]

–  »Les Orientaux prennent du Café toute la journée, et jusqu’à trois ou quatre onces par jour; ils le font épais et le boivent chaud dans de petites tasses, sans lait ni sucre, mais parfumé de clous de girofle, de la cannelle, des grains de cumin ou de l’essence d’ambre.« [11-57]

»Die Türken trinken den Kaffee nicht nur heiß, sondern meist auch sehr stark, und sie nennen ihn aghir cahveh, schweren Kaffee, d. h. stark mit Kaffee beladen. Sie versuchen nicht, die Bitterkeit, die andere darin finden, mit Zucker zu mildern. Es waren die Christen in Konstantinopel und nach ihnen die anderen Europäer, die auf die Idee kamen, ihn auf diese Weise zu versüßen.« [11-47]

Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café. 1836, Seite 47.
Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café. 1836, Seite 47. [11-47]

»Les Turcs ne prennent pas seulement le Café fort chaud, ils le prennent encore généralement très-fort de Café, et ils l’appellent aghir cahveh, du Café pesant, c’est-à-dire fort chargé de Café. Ils ne cherchent pas à adoucir avec du sucre l’amertume que les autres y trouvent. Ce sont les chrétiens de Constantinople, et après eux les autres Européens, qui se sont avisés de l’adoucir ainsi.« [11-47]

Der Zucker ist quasi der Vermittler zwischen Kaffee und Likör, ist das verbindende Element. Später werden wir noch genauer auf die Rolle des Likörs eingehen müssen, doch passenderweise sei bereits hier davon berichtet. Hanna Diyāb berichtet über sich im Zusammenhang mit der Ausfragung durch den Qabidschi wie dieser sagte: »Ich war Zöllner in Aleppo und zählte französische Händler zu meinen Freunden. … Mein bester Freund war der Chawādscha Rimbaud, er sprach auch Türkisch. Ich besuchte ihn häufig und trank Früchtelikör bei ihm. Er hatte einen Lagerverwalter, der Antūn hieß und mir Likör brachte. Als ich dies hörte, erbleichte ich. Ich meinte, er habe mich wiedererkannt und gemerkt, daß ich ein Lügner war. Denn der Chawādscha Rimbaud war mein Meister gewesen und auch der meines Bruders Antūn, und ich war es, der ihm den Früchtelikör gebracht hatte und ihm zu Diensten gewesen war. Aber offenbar hatte ich mich verändert, und er hat mich nicht wiedererkannt, denn zu damaliger Zeit war ich noch ein Kind von gut zwölf Jahren gewesen.« [8-369] Da Hanna um 1688 geboren wurde, [9] muß dieses Treffen um 1700 stattgefunden haben, und wir erfahren aus seinem Bericht, daß man zu jener Zeit auch im Osmanischen Reich nicht nur Kaffee trank, sondern auch Likör genoß. Auch wenn wir noch nicht genau darauf eingegangen sind, was genau unter einem Pousse Café zu verstehen ist, sei die Frage gestellt, ob hier nicht schon schon der Ursprung des Pousse Cafés zu erahnen ist? In Konstantinopel und Aleppo, im christlichen Orient?

Die Kaffeemode jedenfalls machte auch die Verwendung von Zucker populär. Diesen kaufte man damals in kleinen Mengen in der Apotheke. Es wird berichtet, dass man in Paris so viel Zucker in den Kaffee gab, daß er nichts anderes war als ein »Sirup aus geschwärztem Wasser«»syrup of blackened water«. [6-98] Nicht alle jedoch scheinen es mit der Zuckermenge derart übertrieben zu haben, denn Sylvestre Dufour schrieb im Jahr 1671: »Ich bin nicht weniger gegen den Missbrauch von Kaffee als gegen den Missbrauch von Wein, aber ich halte mich an den legitimen Gebrauch von Kaffee, da es offensichtlich ist, dass es vielen sehr gut geht, wenn sie ihn morgens auf nüchternen Magen mit ein wenig Zucker in einer geringen Menge und zur rechten Zeit zu sich nehmen, und die tägliche Erfahrung zeigt, dass er sehr gut geeignet ist, Magenbeschwerden zu heilen, Entzündungen zu stoppen und den Körper zu stärken.« [12-29] [12-30]

Sylvestre Dufur: De l’usage du caphé, du thé et du chocolate. 1671, Seite 29-30.
Sylvestre Dufur: De l’usage du caphé, du thé et du chocolate. 1671, Seite 29-30. [12-29] [12-30]

»Pour moy ie ne blasme pas moins l’abus du Caffé, que celuy du vin: mais i’en retiens l’vsage legitime, puis qu’il est evident que plusieurs se trouvent tres-bien de sa boisson, prise le matin à jeun avec vn peu du sucre, dans vne modique quantité & bien à propos, & l’experience journaliere fait voir qui’il est tres-propre pour guerir les maux d’estomac. arrester les fluxion, & fortifier tout les corps.« [12-29] [12-30]

Ein Grund dafür, dass der Genuß von Likör in Paris und Frankreich beliebt war und dass sich die Limonadiers um dessen Herstellung kümmerten, mag darin begründet liegen, dass die Kultur des Likörtrinkens durch Katherina von Medici, die durch die Heirat mit Heinrich II. ab 1547 Königin von Frankreich wurde, [13] am französischen Hof eingeführt wurde. Liköre kamen so in Mode und wurden regelmäßig getrunken. [14-295]

François Massialot: Nouvelle instruction pour les confitures, les liqueurs, et les fruits. 1712, Seite 265-266.
François Massialot: Nouvelle instruction pour les confitures, les liqueurs, et les fruits. 1712, Seite 265-266. [15-265] [15-266]

François Massialot schrieb in seinem 1712 in Paris erschienenen Buch ›Neue Instruktionen für Konfitüren, Liköre und Früchte‹, ›Nouvelle instructions pour les confitures, les liqueurs et les fruits‹: »Liköre gehören nicht zu den geringsten Annehmlichkeiten des Lebens, und es gibt erfrischende für den Frühling und den Sommer, und andere, die stärken und Wärme spenden, nicht nur mit der Absicht, nützlich zu sein.« [15-265] [15-266]

»Les Liqueurs ne sont pas un des moindes agrémens de la vie, & en a de refraîchissantes pour le Printems & pour l’Eté, & d’autres pour fortifier & pour donner de la chaleur en pas seulement dessein d’être utile.« [15-265] [15-266]

Zuckerverbrauch

Zuckerpreis und -verbrauch.
Zuckerpreis und -verbrauch. [2-10] [3-15] [4-424] [5]
Interessant in diesem Zusammenhang ist sicherlich, Zuckerpreise und -verbrauch näher zu betrachten. Zucker war um 1600 noch relativ teuer mit fast 30 pence pro 250 Gramm, um 1700 kostete er nur noch ein Drittel, um 1850 sogar nur noch rund 5 pence. Es verwundert nicht, dass mit dem Sinken der Preise ein erhöhter Konsum einher ging, denn Zucker wurde für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Die Verbilligung des Zuckers führte auch dazu, dass der Likörkonsum steigen konnte. Interessant ist auch, dass im 18. Jahrhundert in England offenbar sehr viel mehr Zucker als in Frankreich konsumiert wurde. Das mag damit zusammenhängen, dass England vielleicht von seinen Kolonien sehr viel besser mit Zucker versorgt werden konnte als Frankreich.

Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 3 - Chaumière des colombes.
Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 3 – Chaumière des colombes. [17]

Die karibischen Zuckerplantagen führten spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung. Sowohl britische als auch französische Unternehmer investierten ihr Geld in die Zuckerproduktion. Sie erzielten schnelle und überdurchschnittliche Gewinne, denn trotz der hohen Preise wuchs die Zuckernachfrage beständig. Dieser Gewinn wurde in heimische Industriebetriebe reinvestiert. In jener Zeit wurde Zucker, der zuvor nur ein Luxus für Könige gewesen war, zum königlichen Luxus der Bürger. Hatte man Zucker zunächst nur als eine Art Gewürz verwendet, setzte man ihn dann in immer größeren Mengen ein. Hofkonditoren stellten damit dekorative Zucker-Kunstwerke her, die bei Festmahlen serviert wurden. Zuckerbäcker modellierten Schlösser, Burgen oder Jagdszenen, und auch die bürgerliche Kundschaft gönnte sich dieses Vergnügen und ließ sich Fabelwesen oder chinesische Tempel formen. [1]

Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 38 - Ruine de Poestum.
Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 38 – Ruine de Poestum. [17]

Marie-Antoine Carême war einer der bedeutendsten Köche seiner Zeit und hat Wesentliches zur Ausprägung der klassischen französischen Küche beigetragen. Von 1804 bis 1814 war er persönlicher Chefkonditor des französischen Außenministers und organisierte beispielsweise das Bankett für die Hochzeit von Napoleon mit Marie-Louise von Österreich. Im Jahr 1815 veröffentlichte er sein Buch Le Pâtissier pittoresque, das über 100 Zeichnungen von Modellen für dekorative Patisserie enthielt. 1816 wurde er vom britischen Prinzregenten, dem späteren George V., engagiert, 1818 vom russischen Zaren. [16]

 

Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 45 - Fontaine militaire.
Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842, Tafel 45 – Fontaine militaire. [17]

Stephanie Weis betrachtet in ihrer Dissertation das ›Journal des Luxus und der Moderne‹ und berichtet darin über einen Text aus der Februarausgabe des Jahres 1789. Ein anonymer Schreiber beschreibt darin Likör als einen schädlichen Luxus, der nicht nur junge weibliche Personen schädige, sondern insbesondere die wohlhabende, vornehme Schicht. Der Autor ist der Meinung, dass Likör schädlicher sei als der „minder starke Brandeweine“, mit dem sich der „mittlere und gemeine Pöbel“ begnügen müsse. [7-78] [7-79]

In England wurde zwar mehr Zucker als in Frankreich konsumiert; gleichwohl kommt Frankreich im Zusammenhang mit der Entstehung des Pousse Cafés eine zentrale Bedeutung zu. Denn dort kam nicht nur das Kaffeetrinken in Mode, es gab dort auch zahlreiche Likörmanufakturen. Die sogenannten Limonadiers stellten Sirupe und Liköre her und boten sie zum Verkauf an. Zucker und Likör waren schließlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Über die französischen Ursprünge des Pousse Cafés, der anfänglich Chasse Café genannt wurde, berichtet der nächste Beitrag dieser Serie.

Quellen
  1. https://www.spiegel.de/kultur/luxus-der-koenige-a-a67fab0e-0002-0001-0000-000013516962 Zucker. Luxus der Könige. Vom 2. März 1986.
  2. https://www.learningforjustice.org/sites/default/files/2018-02/TT-Teaching-Hard-History-American-Slavery-IDM-How-did-Sugar-Feb2018.pdf  How Did Sugar Feed Slavery?
  3. https://web.archive.org/web/20170702124414/http://www.princeton.edu/rpds/seminars/Voth102809.pdf Jonathan Hersh & Hans-Joachim Voth: Sweet Diversity: Colonial Goods and the Rise of European Living Standards after 1492.
  4. https://www.researchgate.net/figure/Sugar-intake-increases-in-England-in-the-18th-century_fig2_233750937 Christopher J. Rivard, Jeffrey Thomas, Miguel Lanaspa, Richard Johnson: Sack and sugar, and the aetiology of gout in England between 1650 and 1900. In: Rheumatology 2013; 52:421-426.
  5. http://www.nofructose.com/introduction/other-stuff/history-of-sugar/ History of sugar.
  6. https://archive.org/details/AllAboutCoffee/page/91/mode/2up?q=frenchAb William H. Ukers: All about coffee. New York, 1922.
  7. https://diglib.uibk.ac.at/download/pdf/1659733?name=Die%20Luxuskonzeption%20im%20%E2%80%9EJournal%20des%20Luxus%20und%20der%20Moden%E2%80%9C%20im%20Kontext%20der%20Debatten Stephanie Weis: Die Luxuskonzeption im „Journal des Luxus und der Moden“ im Kontext der Debatten einer aufgeklärten Gesellschaft. Mit einer fachdidaktischen Umsetzung der Thematik im Geschichtsunterricht. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Philosophischen-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck, 2016.
  8. Hanna Diyāb: Von Aleppo nach Paris. Die Reise eines jungen Syrers an den Hof Ludwigs XIV. Die Andere Bibliothek, Band 378. ISBN 978-3-8477-0378-5. Berlin, 2016.
  9. https://en.wikipedia.org/wiki/Hanna_Diyab Hanna Diyab.
  10. https://books.openedition.org/iremam/1199?lang=de#bodyftn9 H. Desmet-Gregoire: Une approche ethno-historique du café: évolution des ustensiles servant à la fabrication et à la consommation du café. In: Le café en Méditerranée. Histoire, anthropologie, économie. XVIIIe-XXe siècle. Seite 93-114.
  11. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6581311r/f61.item.texteImage Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café, opuscule du XVIIe siècle par Galland, auteur des mille et und nuits. Nouvelle édition augmentée d’instructions sur les propriétés de cette fève et le meilleur procédé pour en obtenir la boisson dans toute sa perfection. Paris, 1836. Darin: Fragments sur le café.
  12. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k87051147/f49.image.r=paris Sylvestre Dufur, Bartolome Marradón, Antonio Colmenero de Ledesma, Jacob Spon: De l’usage du caphé, du thé et du chocolate. Lyon, 1671.
  13. https://de.wikipedia.org/wiki/Caterina_de%E2%80%99_Medici Caterina de’ Medici.
  14. David Wondrich & Noah Rothbaum (Hrsg.): The Oxford Companion to Spirits & Cocktails. ISBN 9780199311132. 2022.
  15. https://archive.org/details/bub_gb_RkLylz9GyUAC/page/n3/mode/2up François Massialot: Nouvelle instruction pour les confitures, les liqueurs, et les fruits, avec la maniere de bien ordonner un dessert, & tout le reste qui est du devoir des maîtres d’hôtels, sommeliers, confiseurs, & autres officiers de bouche. Paris, 1712.
  16. https://de.wikipedia.org/wiki/Marie-Antoine_Car%C3%AAme Marie-Antoine Carême.
  17. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1025012g/f12.planchecontact Marie-Antoine Carême: Le Pâtissier pittoresque. 4e édition. Paris, 1842.

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