Der Manhattan Cocktail entstand um 1880 und gilt als wahrhafte Revolution, als etwas Innovatives. Das klingt, als wäre er vorher nicht denkbar gewesen. Doch die alten Bücher belegen: spätestens um 1310 hätte man einen Brandy-Manhattan mixen können!
Die Ausgangssituation
Was ist eigentlich ein Manhattan Cocktail in seiner einfachsten Form? Es ist die Kombination aus Wermut, Whisky und Cocktailbitter – wobei man letzteren sicherlich weglassen könnte, um die Mischung immer noch als Manhattan bezeichnen zu dürfen, so wie es beim Martini Cocktail ja auch üblich ist. Man sagt, er habe eine ungeheure Kreativität freigesetzt, da in ihm erstmals eine Spirituose mit einem (fortifiziertem) Wein kombiniert wurde, und dies sei bis zu seiner Entstehung in den 1880er Jahren etwas Undenkbares gewesen. – Wirklich?
Ich möchte widersprechen und stelle einmal eine These auf: hätte man damals schon Korn gebrannt, und nicht nur Wein, dann hätte es den Manhattan Cocktail schon um 1310, wenn nicht sogar schon einige Jahrzehnte zuvor, geben können – oder es gab ihn sogar, ohne dass wir explizit davon wissen.
Wie ich zu dieser Aussage komme? Ich bin in alten Büchern fündig geworden und habe Hinweise darauf gefunden, dass schon damals alles bekannt war.
Arnald de Villanova
Branntwein
Begeben wir uns auf eine Zeitreise: Arnald von Villanova, auf lateinisch Arnaldus de Villanove genannt, wurde um 1235 bei Valencia geboren und studierte um 1260 an der Universität von Montpellier. Er war nicht nur katalanischer Arzt und Pharmazeut, sondern auch Hochschullehrer, Diplomat und Leibarzt von Königen und Päpsten. Durch ihn wurde Weinbrand – er nannte ihn ›aqua vini‹ oder ›aqua vitae‹ – in die abendländische Medizin eingeführt: mit ihm gewann er aus Heilkräutern alkoholische Extrakte für medizinische Zwecke. [1]
Fortifizierter Wein
Um 1285 entdeckte er, dass sich die Gärung des Weines durch Zugabe von Weinbrand stoppen lies, wodurch viel von der natürlichen ursprünglichen Süße der Traube im Wein erhalten bleibt, und entdeckte so das Herstellungsverfahren für einen sogenannten ›Vin Doux Naturel‹ – [1] [6] der das ist, was wir heute einen fortifizierten Wein nennen. [1] [4] [6] [7]
Um 1310 schrieb Arnald de Villanova sein Buch ›liber de vinis‹, ›Das Buch der Weine.‹ [2-13]
›Das Buch der Weine‹ und Wilhelm von Hirnkofen
Bevor ich auf dieses Buch eingehe, möchte ich mich Wilhelm von Hirnkofen zuwenden. Er wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts geboren und wuchs in Ulm auf. [5] Er wurde auch ›Renwart‹ genannt. Auf Grundlage eines von ihm gefundenen Manuskriptes übersetzte das ›liber de vinis‹ ins Deutsche unter dem Titel ›Von bewarung und beraitung der wein‹. Genau genommen ist dieses Buch ist eine Kompilation des ›Liber de vinis‹ Arnolds de Villanova und des ›Tractatus de vino et eius proprietate‹ Gottfrieds von Franken. Das Buch erschien im Jahr 1478 und war dem Nürnberger Rat gewidmet. [2-14] [2-15] [5]
Wilhelm von Hirnkofen gliederte dieses Buch in sieben Abschnitte, und nur der sechste, über medizinische Weine, gibt den Text Arnalds wieder. [2-15] Dieser ist jedoch eine gekürzte Fassung des Originaltextes, denn nicht alle darin beschriebenen Weine wurden übernommen. Vielleicht wurde er von Wilhelm gekürzt, vielleicht fehlten diese aber auch im Manuskript, welches Wilhelm vorlag. [2-15] [2-16]
Wilhelms Buch war ein Bestseller. Es wurde schnell beliebt. Die Erstausgabe erschien noch ohne Angabe von Ort und Jahr. Es muss jedoch kurz nach dem 2. Oktober 1478 gewesen sein, und zwar in Esslingen durch Konrad Fyner. Zwischen 1478 und 1500 erschienen elf weitere Ausgaben, zwischen 1503 und der Mitte des 16. Jahrhunderts weitere zehn. [2-17] [2-18] [5]
Wermut-Wein
Arnald kannte demzufolge auch Wermut-Wein, schreibt über dessen medizinischen Vorzüge und wie man ihn bereitet:

»Wermuͤt wein. … Er wirt alſo gemachet das man grünen oder dürren wermuͤt in wein hencken ſol. Aber noch ain anders vnd beſſers iſt zuͤ mercken . das man nem friſch oder dürr wermuͤt / Vnd das in ain ſaͤcklin oder ander geſchirr thuͤ Vnd den wein warm oder kalt . Dar durch seÿhe . ſo offt vnd dick bis er den geſchmack vud krafft dauon enpfacht Vnd man ſol zucker vnnd honig als ſich gezÿmpt dareÿn thuͤn . Vnnd das iſt der beſſer wege wann die krafft wirt durch den wege bas herauſz gezogen.« [3-32]
Eine ins moderne Deutsche sinngemäß übertragene Übersetzung lautet: »Wermutwein. … Er wird hergestellt, indem man grünen oder getrockneten Wermut in Wein einlegt. Es gibt jedoch noch eine andere, bessere Methode: Man nimmt frischen oder getrockneten Wermut, gibt ihn in einen kleinen Beutel oder einen anderen Behälter und gießt den Wein so oft wie nötig heiß oder kalt darüber, bis der Wein seinen Geschmack und seine Kraft aufgenommen hat. Man füge eine ihm in angemessener Menge Zucker und Honig hinzu. Dies ist die bessere Methode, da auf diese Weise die Wirksamkeit besser extrahiert wird.«
Was bedeutet das für uns? Arnald kannte bereit Weinbrand und er kannte bereits Wermut-Wein. Ist das zusammengegeben nicht schon ein Brandy-Manhattan? Man mag nun einwenden, dass in einen ›richtigen‹ Wermut nicht nur Wermutkraut, sondern auch andere Gewürze gehören. Doch auch so etwas kannte man schon:
Gewürzter Wein
Die eine Zutat für einen Manhattan gab es also: Wermut-Wein. Man mag nun einwenden, dass für einen „richtigen“ Wermut noch weitere Gewürze im Wein fehlen. Dem möchte ich erwidern: Man gab auch Gewürze in einen Wein, denn es heißt:

»Gewürzter wein wirt gemacht . Alſo dz man die ſpecereÿ In ainem ſaͤcklin in daz uaſz da wein oder moſt Innen iſt hencke ſo wirt der geſcmack vnd nutzberkait . nach geſtalt der gewirtze ſÿ ſeÿen kalt oder warm diſz oder das.« [3-31]
Dann beschreibt er einen Wein für den Husten und einen Wein, um Frauen zu verschönern und fährt fort:

»Ain wein dem man wen̄ man will / ainen ÿeden geſchmack geben mag welherlaÿ man gern hat. Vnd es iſt am hofliche ſach Am maiſten gepürlich den herrn̄ die sich erzaigen woͤllen . Als ob ſÿ wunderbar vn̄ mancherlaÿ wein haben. Er iſt ouch guͤt zuͤ nutzberkait mācherlaÿ artzneÿ / nach kraft der ding ſo dareÿn getān werdē . vnd die ſach kurtz iſt vn̄ ḋ māſſen Man ſol kreuͤter oder ſpecereÿ / Welich man will am tag vnnd am nacht In geprenten wein legen . daz die kraft des ſelbigen dings in den geprenten wein v̄leibt werde . ſo wirt da die v̄luͤchung vnd geſchmack / der ſelbē gewürtz oder kreuͤter Vn̄ von diſem geprenten wein ſol man ain wenig in den wein ſo man jn trincken wil thuͤn / ſo gewynnet der wein die verſuͤchung vnd geſchmack ḋ ſelbē materi.« [3-31] [3-32]
Ins moderne Deutsch sinngemäß übertragen heißt es also: »Gewürzter Wein wird hergestellt, indem man die Gewürze in ein Säckchen gibt und es in ein Fass mit Wein oder Most hängt. So wird der Geschmack und die Wirkung je nach den Gewürzen kalt oder warm, dies oder das sein.« und »Ein Wein, dem du, wenn du willst, jeden Geschmack geben kannst, den du willst. Er ist eines Hofes würdig und eignet sich besonders für Herren, die zeigen wollen, was für eine Vielfalt an herrlichen Weinen sie haben. Er ist auch ein nützliches Heilmittel für verschiedene Beschwerden, je nachdem, welche Gewürze man verwendet. Kurz gesagt geht es um Folgendes. Ihr sollt Kräuter oder Gewürze, je nachdem, was ihr wollt, einen Tag und eine Nacht lang in Branntwein aufbewahren, damit die Kraft dieser Dinge in den Branntwein übergeht. Er wird den Geschmack und das Aroma dieser Gewürze oder Kräuter annehmen. Gebt ein wenig von diesem Branntwein in den Wein, den ihr zu trinken beabsichtigt, und der Wein wird den Geschmack und das Aroma der Substanz annehmen.«
Wir sehen also: Auch ein Wermutwein mit anderen Gewürzen angesetzt wäre etwas durchaus übliches. Allerdings zeigt das letzte Rezept einen ganz anderen Ansatz: Man mazeriert die Gewürze, die man möchte, in Branntwein und gibt dann ganz nach Belieben und Bedarf ein Löffelchen davon in seinen Wein, um ihn zu würzen. Das ist nichts anderes als ein Cocktailbitter!
Conclusio
Ich sage nicht, dass man spätestens im 14. Jahrhundert einen ›Manhattan‹ zubereitet hat. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass die DNA desselben, das Wirkprinzip, die benötigten Zutaten alle vorhanden waren: man kannte fortifizierten Wein, Branntwein, Wermut-Wein, gewürzten Wein und ›Cocktail-Bitter‹. Es wäre also möglich gewesen, damals solch ein Mischgetränk zuzubereiten. Mir gefällt der Gedanke, dass der englische Franziskanerpater William von Baskerville, als er eine Benediktinerabtei im Ligurischen Apennin besucht und dort Ende November 1327 eine Mordserie aufklärt, so wie es sein Novize und Adlatus Adson von Melk in ›Der Name der Rose‹ berichtet, bei einem ›mittelalterlichen Brandy-Manhattan‹ vor einem Kaminfeuer seine Schlüsse zieht und dem Mörder auf der Spur ist.
Quellen
- https://de.wikipedia.org/wiki/Arnald_von_Villanova Arnald von Villanova.
- https://archive.org/details/b31366521/ Anonymus: The Earliest Printed Book on Wine By Arnald of Villanova, Physician, Surgeon, Botanist, Alchemist & Philisopher [1235?-1311]. Now for the First Time rendered into English and with an Historical Essay by Henry E. Sigerist, M.D. With Facsimile of the Original Edition, 1478. New York, Schuman’s 1943.
- https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00035103?page=32 Arnoldus, de Villa Nova: Der Tractat Arnoldi de Nova Villa … von Bewarung vnd Beraitung der Wein. Von Wilhelm von Hirnkofen genannt Renwart. (Esslingen, 1478)
- https://glossary.wein.plus/vin-doux-naturel Vin doux naturel.
- https://mrfh.de/uebersetzer039 Wilhelm von Hirnkofen.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Vin_Doux_Naturel Vin doux naturel.
- https://grape-to-glass.com/index.php/dessert-wine-styles/ Dessert Wine Styles.
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