Beschäftigt man sich mit der Herkunft der Bezeichnung „Cocktail“ und damit auch mit seiner eigentlichen, wahren Bedeutung, so muß man eine weitreichende Schlußfolgerung ziehen: Der Cocktail besteht nicht nur aus einer Spirituose jeglicher Art, Zucker, Wasser und Bitter bestehen, sondern es muß noch eine weitere, namensgebende Ingredienz hinzukommen, die einen Cocktail erst zu einem Cocktail macht.
Aufgrund ihres Umfangs erfolgt die Veröffentlichung dieser Abhandlung über den Ursprung des Cocktails in mehrere Teilen, die sich wie folgt gestalten:
Wir können also feststellen, daß ein morgendlicher Purl zur Stärkung der Gesundheit zu sich genommen wurde. Richard Stoughton preist nun sein Elixir damit an, daß man einen Purl ohne viel Zeitaufwand zubereiten könne. Ursprünglich verwendete man Bier, Ale, Tee oder andere Getränke, und gab das Elixir hinzu. Oder man nahm für einen Purl Royal auch einen Sack. Dieser hatte schon einen etwas erhöhten Alkoholgehalt. Zwar schlägt Richard Stoughton vor, sein Elixir auch nur mit Brandy zu sich zu nehmen, aber warum sollte man nicht den Alkoholgehalt des Brandys herabgesetzt haben, um einem Purl Royal ähnlicher zu werden? Immerhin trank man das Getränk morgendlich und zur Erhaltung der Gesundheit; ein hoher Alkoholgehalt, ausreichend, um sich zu betrinken, stand sicherlich meistens nicht im Vordergrund. Man nahm Stoughton’s Elixir auch in Quellwasser ein, warum sollte man also nicht den Brandy mit Quellwasser im Alkoholgehalt reduziert haben, so wie es die Cocktailrezeptur von Sir James Edward Alexander aus dem Jahr 1833 nahelegt.
1806 wurde erstmals in einer amerikanischen Quelle genau definiert, daß ein Cocktail aus einer Spirituose jeglicher Art, Zucker, Wasser und Bitter bestehe. Wir haben durch Indizien belegt, daß die Schlußfolgerung, alle Zutaten seien bereits in England miteinander vermengt worden, durchaus zulässig ist.
David Wondrich geht sogar so weit, festzustellen, daß Dr. Stoughton durchaus als Erfinder des Cocktails gelten könne und somit sein Geschäft in der Borough High Street als dessen Geburtsort anzusehen sei, denn seine Stoughton’s Bitters wurden damit beworben, daß man sie mit Brandy oder Wein zu sich nahm, und außerdem sei der Brandy der damaligen Zeit grundsätzlich gesüßt worden, ebenso wie der „kanarische Wein“ (der Sack): [11]
„“Stoughton’s Bitters,” as they came to be called, were the same sort of concentrated extract of roots, barks, peels, and such that bars are dashing all over the place today, and in his ads he recommended taking them in brandy or wine as a hangover cure. The brandy of the day was generally sweetened, as was the Canary wine he recommended, which puts us perilously close to the definition of the cocktail and makes Dr. Stoughton the inventor of the cocktail, and his shop—it took me until last year to pinpoint its exact location on Borough High Street—its birthplace.“[11]
Bevor wir weiter darauf eingehen, was dies konkret für die Geschichte des Cocktails bedeutet und was man daraus ableiten kann, müssen wir jedoch an dieser Stelle aufhören, und uns mit etwas anderem beschäftigen. Wieso heißt der Cocktail eigentlich Cocktail? Lassen sich daraus weitere wertvolle Erkenntnisse beziehen?
Ethymologie
Lange Zeit dachte man, der Cocktail sei eine amerikanische Erfindung. Vor der bereits erwähnten Beschreibung in „The Balance“ vom 13. Mai 1806 erschien die Bezeichnung 1803 in einer kleinen Zeitung aus Amherst in New Hampshire. Dort lesen wir am 28. April im „Farmer’s Cabinet“: „Drank a glass of cocktail“. [9-189][11] Doch dann fand man die Bezeichnung auch in England, und so wurde klar, daß es eine Beziehung dorthin geben muß.
Wir lesen bereits 1791 in den „Edinburgh Fugitive Pieces“, einer Essaysammlung von William Creech, von einem Getränk namens „cauld cock“. Cauld bedeutet „kalt“. [1-214][6] Was das für ein Getränk sein soll, wird uns leider nicht erklärt. Doch die Tatsache, daß es mit vielen anderen Getränken aufgelistet wird, läßt darauf schließen, daß damals allgemein bekannt war, was es sein sollte, und daß es zu den Standardgetränken zählte.
Am 20. März 1798 finden wir eine Erwähnung des Getränkes „cock-tail“ im „London Morning Post & Gazeteer“. [4][7][10-14] Wir müssen Jarred Brown und Anistatia Miller dankbar dafür sein, diesen Artikel gefunden zu haben. Am 16. März erschien in derselben Zeitung ein Artikel, demzufolge der Vermieter der „Axe & Gate Tavern“ an der Ecke Downing Street / Whitehall, nachdem er in der Lotterie gewonnen hatte, in sein Etablissement zurückgekehrt war und die angeschriebenen Schulden seiner Stammgäste strich: „A publican, in Downing-street, who had a share of the 20.000 l. prize, rubbed out all his scores, in a transport of joy: This was an humble imitation of his neighbour, who, when de drew the highest prize in the State Lottery, not only rubbed out, but actually broke scores with his old customers, and entirely forgot them“. Vier Tage später, am 20. März, erschien in derselben Zeitung ein satirischer Artikel, in dem angegeben wurde, wer für welche Getränke Schulden hatte im Herzen der britischen Politik. [1-214][4][10-14][10-15][10-16] Wir lesen dort:
OLD SCORES. We have already stated that the Publician, the corner of Downing-street, when he heard of his share in the Lottery being drawn a 10,000l. prize, washed out all scores with a mop. It may be entertaining to lay before our readers a list of the scores that were owing to him by the Nobility and Gentry of the neighbourhood. – The principal of them were as follow: … Mr. Pitt, two petit vers of „L’huile de Venus“ 0 1 0 Ditto, one of „perfeit amour“ – 0 0 7 Ditto, „cock-tail“ (vulgary called ginger) 0 0 3/4
Nun meint David Wondrich hierzu, es könne sich bei dem dort angegebenen Cocktail nicht um einen Cocktail im modernen Sinne gehandelt haben. Er begründet es damit, daß in dem Artikel auch Preise der verschiedenen Getränke genannt würden, und daß ein Cocktail für 3/4 Penny weitaus günstiger sei als alle anderen alkoholischen Getränke auf der Karte. [1-214][11]
David Wondrich hat insofern recht, als uns nicht näher erklärt wird, was genau in dem Artikel mit einem Cocktail gemeint ist, und das läßt natürlich für Vermutungen einigen Spielraum. Wir sind der Auffassung, daß es unwesentlich ist, ob der in diesem Artikel gemeinte Cocktail ein Cocktail in unserem heutigen Verständnis war. Wichtig ist der Hinweis, daß die Bezeichnung „cock-tail“ gewöhnlicherweise auch für Ingwer verwendet werde: „„cock-tail“ (vulgary called ginger)“. Der hier gemeinte Cocktail muß also irgendetwas mit Ingwer zu tun gehabt haben, und insofern hat David Wondrich recht, denn Ingwer kommt standardmäßig in dem, was wir heute unter einem Cocktail verstehen, nicht vor.
Wie kommt aber diese Aussage zustande? Wieso hat ein Cocktail etwas mit Ingwer zu tun? Woher kommt diese Gleichsetzung? Die Erklärung liegt in der Pferdezucht. Es gibt zwar noch zahlreiche andere ethymologische Erklärungen dafür, woher die Bezeichnung Cocktail stammt, doch keine davon ergibt wirklich einen Sinn.
Zur damaligen Zeit war die häufigste Verwendung des Wortes Cocktail im Zusammenhang mit der Pferdezucht. Man bezeichnete damit ein Pferd mit einem kurzgeschnittenen Schweif, um damit seine Gemischtrassigkeit zu kennzeichnen. Der Schweif wurde vom Pferd dadurch hoch getragen, [4][5] und er sah gewissermaßen wie ein Hahnenschwanz aus, wie ein cocktail, so die wörtliche Übersetzung.
Es war Praxis der englischen Pferdehändler, ihren Pferden ein Stück Ingwer in den Hintern zu schieben, damit sie lebhafter und rassiger wirkten und ihren Schweif höher trugen. Man bezeichnete dies als „gingering“ und hoffte dadurch höhere Preise zu erzielen, denn das Pferd zeigte dadurch weit geöffnete Augen und einen hochgestellten Schweif und wirkte energiereicher. [1-215][4] Diese Praxis wurde auch „Feague“ genannt und wird beispielsweise beschrieben von Captain Grose in seinem 1788 erschienenen Buch „A Classical Dictionary of the Vulgar Tongue“. [1-215][2][11] Dort lesen wir:
FEAGUE. To feague a horse; to put ginger up a horse’s him lively and carry his tail well: it is said, a forfeit is incurred by any horse dealer’s servant, who shall shew a horse without first feaguing him. Feague is used, figura- tively, for encouraging or spiriting one up.
Durch den Ingwer im Hintern trug das Pferd also seinen Schweif hoch, und man verwendete den Begriff „Feague“ im übertragenen Sinne auch, um sich „aufzumuntern“. David Wondrich kommt nun zu dem Schluß, daß man in diesem übertragenen Sinne einen Cocktail zu sich nahm, nämlich um sich aufzumuntern, und daß dieses im Artikel der Morning Post ein Glas Ginger Beer oder Ale mit Ingwerextrakt gewesen sein müsse: „A cocktail is something that cocks up your tail – in the case of the Morning Post citation, that something being a glass of ginger beer or ginger extract mixed with ale.“ [1-215]
Diese Gleichsetzung zwischen Ingwer und Cocktail wird auch bestätigt durch John Badcock. 1825 schreibt er in „Sportsman’s Slang“ auf Seite 27, daß man unter Cock-tail sowohl Ingwer als auch in der Pferdezucht ein Halbblut verstand: „Cock-tail ― is ginger; and a cockt-tail horse is a half-bred, nick’d.“[1-215][3-27][11]
John Badcock berichtet auch über die Praxis der Pferdehändler. Auf Seite 67 schreibt er, daß man kleine Stückchen Ingwer in den Pferdeanus einführte, um sie kurzzeitig lebhafter wirken zu lassen: „Fig, figged ― ginger; little lumps whereof are thrust into the rectum of horses to give them a short-lived vigour; they are then said to be figged, and carry better while the stimulus lasts; but horses of any original breeding afterwards flag in their disposition, as if resentful of the beastly indignity shewn them. Fellows there are who traverse Smithfield of Friday evenings seeking for old figs.“[3-67] Als kleine Anekdote sei nicht unerwähnt, daß man interessanterweise zuvor anstelle des Ingwers lebende Aale verwendet hatte, um Pferde lebhafter erscheinen zu lassen, so wird jedenfalls auf Seite 75 berichtet: „To Feague a horse ― formerly a live eel was used, ginger being then dear. See Fig.“[3-75]
Er berichtet auf Seite 87 auch über Ingwer, und wir lernen, daß man rotharige Personen ebenfalls „Ginger“ nannte, ebenso solche Männer, die ihr Barthaar mit gelber Seife oder anderen Hilfsmitteln ihr Barthaar färbten. Auch erklärt er uns, daß man „gingery“ als Adjektiv im Sinne von „heißblütig, mißgestimmt“ verwendete: „Ginger ― another name for red-haired persons, and ‚ginger-whiskers‘ is an appellation for such men as use yellow soap, or otherwise discolour their whiskers: ‚tis a regimental mark with some commanders. Among grooms and horse-dealers they obtain the description ‚chesnut.‘ Gingery ― (stud) hot, distempered; applied to horses, whether they have been figged or not. So, at a flash-house, ‚how gingery is Cow-cross Billy to-day; b——y eend, if he han’t had a quarrel vith all on us: I suppose he’ll fight, and I vish he may nap.““[3-87]
Von einem Getränk berichtet uns John Badcock in diesem Buch nichts. Das holt er 3 Jahre später nach und berichtet in „Boxiana; or, Sketches of Modern Pugilism“ auf Seite 68 darüber, daß man cock-tail (sprich: Ingwer) in Gin oder Bier gab: „gin and beer, or both combined with a scratch or two of cock-tail in it“[8-68] David Wondrich meint in diesem Zusammenhang, dieser Cock-tail müsse so etwas wie ein Ingwerextrakt gewesen sein. [1-215]
Vor diesem Hintergrund kann man auch die Satire des 1798 erschienenen Beitrags im „Morning Post and Gazetteer“ verstehen. William Pitt der Jüngere war damals Premierminister, und da er zeitlebens unverheiratet war, bot seine Sexualität Stoff für Spekulationen und derbe Witze. So erklärt sich, daß alle drei Getränke, die für ihn genannt wurden, mit einer sexuellen Konnotation verstanden werden können: „L’huile de Venus … perfeit amour … cock-tail (vulgary called ginger)“[5]
Die Verbindung zwischen der „Behandlung“ von Pferden und dem „cock-tail“ zeigt sich auch in einer kleinen politischen Satire, die 1790 in einer provinziellen englischen Zeitung abgedruckt wurde, in der ein gewisser Geistlicher „hath been guilty of monopolizing all the ginger and pepper in the neighbourhood, to make the asses who vote for Sir Gerald Vanneck cock their tails.”[11] Die Übersetzung ist etwas delikat, da es hier anscheinend ins Vulgäre geht und David Wondrich hofft, daß die Aussage nur figurativ gemeint gewesen sein. Man könnte es vielleicht so sagen: Der Geistliche habe sich schuldig gemacht, den ganzen Ingwer und Chili (Pfeffer wird hier wohl nicht gemeint sein) der Nachbarschaft zu monopolisieren, um den Eseln (man könnte auch mit „Ärsche“ übersetzen), die für Sir Gerald Vanneck stimmten, den Schweif zu stärken (oder um die vulgäre Konnotation noch zu erhöhen: „den Schwanz aufzurichten“). Hier sehen wir also nicht nur Ingwer, sondern auch Chili gemeinsam erwähnt – so wie auch in den Cocktail-Rezepten von William Terrington im Jahr 1869, auf die wir im folgenden Kapitel noch zu sprechen kommen. Diese Verwendung von Chili statt Ingwer als Cocktailzutat bestätigt auch David Wondrich, und er bestätigt, daß in England Ingwer oder manchmal auch Chili dem Drink hinzugefügt wurde. [11] Dies geschah wohl auch in den Vereinigten Staaten, und wir lesen bei William Crawford aus Pennylvania, daß er in den Jahren nach der Revolution üblicherweise einen „’Cock-tail‘ with pepper in it“ getrunken habe, also einen Cocktail mit Chili. [11] Darüber hinaus sei noch erwähnt, daß man im 18. Jahrhundert dem Bier nicht nur Ingwer, sondern auch Chili (Cayenne) hinzufügte. [12]
Als weiteren Beleg dafür, daß die Bezeichnung ›Cocktail‹ tatsächlich, wie hier hergeleitet, auf die Zugabe von Ingwer in ein Getränk zurückgeht, sei aus einem Beitrag in Bentley’s Miscellany, erschienen im Jahr 1838 in London, zitiert. Dort wird eine Reise von New York nach Philadelphia beschrieben, und anläßlich einer Schiffsreise auf dem Delaware wird angemerkt: »Wir unterhielten uns an Deck, bis wir den Gang für uns allein hatten, denn die anderen Passagiere hatten sich alle an die Öfen in der Kajüte oder in den Barraum zurückgezogen, wo Ale-Cocktail (Ale mit Ingwer und Chili), Sangaree (Schnaps und Zucker) und Mononghahela (Whiskey) Punsch sehr gefragt waren.« [13-47][13-47]
– »We had been talking on deck until we had the gang-way to ourselves, the other passengers having all retired to the stoves in the cabin, or to the bar-room, where ale-cocktail (ale with ginger and pepper in it), sangaree (spirits and sugar), and Mononghahela (whiskey) punch were in great demand.« [13-47][13-47]
Wie wir sehen, macht die Zugabe von Ingwer (und hier auch ›pepper‹, womit wohl Chili gemeint sein wird) aus einem einfachen Bier einen Bier-Cocktail. Und jedes andere Getränk mit Ingwer ist entsprechend unserer herleitung ebenfalls ein ›Cocktail‹.
Quellen
David Wondrich: Imbibe! From Absinthe Cocktail to Whiskey Smash, A Salute in Stories and Drinks to „Professor“ Jerry Thomas, Pioneer of the American Bar. 2. Auflage. ISBN 978-0-399-17261-8. New York, 2015, Seite 313-316. Angegeben wird zusätzlich im Quellenvermerk die Seite im Buch, beispielsweise bedeutet [1-15]: Seite 15.
Jon Bee [John Badock]: A New Dictionary of Terms Used in the Affairs of the Turf, the Ring, the Chase and the Cock-pit, with Those of Bon-ton and the Varieties of Life : Forming an Original and Authentic Lexicon Balatronicum Et Macaronicum, Particulary Adapted to the Use of the Sporting World … : Interspersed with Anecdotes and Whimsies, with Tart Quotations and Rum-ones, with Examples, Proofs and Monitory Precepts, Useful and Proper for Novices, Flats and Yokels. London, Selbstverlag, 1825. Seite 27 und 67. https://books.google.de/books?id=rCBTAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false
John Badcock: Boxiana; or, Sketches of modern pugilism, containing all the transactions of note, connected with the prize ring, during the years, 1821, 1822, 1823. London, Sherwood, Jones and Co, 1828?. https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nyp.33433061838151;view=1up;seq=112. Angegeben wird zusätzlich im Quellenvermerk die Seite im Buch, beispielsweise bedeutet [8-15]: Seite 15.
Anistatia Miller & Jarred Brown: Spirituous Journey. A history of drink. Book one: From the birth of spirits to the birth of the cocktail. ISBN 0-9760937-0. Mixellany, 2009. Angegeben wird zusätzlich im Quellenvermerk die Seite im Buch, beispielsweise bedeutet [9-15]: Seite 15.
Anistatia Miller & Jarred Brown: Spirituous Journey. A history of drink. Book two: From publicans to master mixologists. ISBN 0978-1-907434-06-8. Mixellany, 2009. Angegeben wird zusätzlich im Quellenvermerk die Seite im Buch, beispielsweise bedeutet [10-15]: Seite 15.
Beschäftigt man sich mit der Herkunft der Bezeichnung „Cocktail“ und damit auch mit seiner eigentlichen, wahren Bedeutung, so muß man eine weitreichende Schlußfolgerung ziehen: Der Cocktail besteht nicht nur aus einer Spirituose jeglicher Art, Zucker, Wasser und Bitter bestehen, sondern es muß noch eine weitere, namensgebende Ingredienz hinzukommen, die einen Cocktail erst zu einem Cocktail macht.
Aufgrund ihres Umfangs erfolgt die Veröffentlichung dieser Abhandlung über den Ursprung des Cocktails in mehrere Teilen, die sich wie folgt gestalten:
Zweite Zwischenbetrachtung
Wir können also feststellen, daß ein morgendlicher Purl zur Stärkung der Gesundheit zu sich genommen wurde. Richard Stoughton preist nun sein Elixir damit an, daß man einen Purl ohne viel Zeitaufwand zubereiten könne. Ursprünglich verwendete man Bier, Ale, Tee oder andere Getränke, und gab das Elixir hinzu. Oder man nahm für einen Purl Royal auch einen Sack. Dieser hatte schon einen etwas erhöhten Alkoholgehalt. Zwar schlägt Richard Stoughton vor, sein Elixir auch nur mit Brandy zu sich zu nehmen, aber warum sollte man nicht den Alkoholgehalt des Brandys herabgesetzt haben, um einem Purl Royal ähnlicher zu werden? Immerhin trank man das Getränk morgendlich und zur Erhaltung der Gesundheit; ein hoher Alkoholgehalt, ausreichend, um sich zu betrinken, stand sicherlich meistens nicht im Vordergrund. Man nahm Stoughton’s Elixir auch in Quellwasser ein, warum sollte man also nicht den Brandy mit Quellwasser im Alkoholgehalt reduziert haben, so wie es die Cocktailrezeptur von Sir James Edward Alexander aus dem Jahr 1833 nahelegt.
1806 wurde erstmals in einer amerikanischen Quelle genau definiert, daß ein Cocktail aus einer Spirituose jeglicher Art, Zucker, Wasser und Bitter bestehe. Wir haben durch Indizien belegt, daß die Schlußfolgerung, alle Zutaten seien bereits in England miteinander vermengt worden, durchaus zulässig ist.
David Wondrich geht sogar so weit, festzustellen, daß Dr. Stoughton durchaus als Erfinder des Cocktails gelten könne und somit sein Geschäft in der Borough High Street als dessen Geburtsort anzusehen sei, denn seine Stoughton’s Bitters wurden damit beworben, daß man sie mit Brandy oder Wein zu sich nahm, und außerdem sei der Brandy der damaligen Zeit grundsätzlich gesüßt worden, ebenso wie der „kanarische Wein“ (der Sack): [11]
„“Stoughton’s Bitters,” as they came to be called, were the same sort of concentrated extract of roots, barks, peels, and such that bars are dashing all over the place today, and in his ads he recommended taking them in brandy or wine as a hangover cure. The brandy of the day was generally sweetened, as was the Canary wine he recommended, which puts us perilously close to the definition of the cocktail and makes Dr. Stoughton the inventor of the cocktail, and his shop—it took me until last year to pinpoint its exact location on Borough High Street—its birthplace.“ [11]
Bevor wir weiter darauf eingehen, was dies konkret für die Geschichte des Cocktails bedeutet und was man daraus ableiten kann, müssen wir jedoch an dieser Stelle aufhören, und uns mit etwas anderem beschäftigen. Wieso heißt der Cocktail eigentlich Cocktail? Lassen sich daraus weitere wertvolle Erkenntnisse beziehen?
Ethymologie
Lange Zeit dachte man, der Cocktail sei eine amerikanische Erfindung. Vor der bereits erwähnten Beschreibung in „The Balance“ vom 13. Mai 1806 erschien die Bezeichnung 1803 in einer kleinen Zeitung aus Amherst in New Hampshire. Dort lesen wir am 28. April im „Farmer’s Cabinet“: „Drank a glass of cocktail“. [9-189] [11] Doch dann fand man die Bezeichnung auch in England, und so wurde klar, daß es eine Beziehung dorthin geben muß.
Wir lesen bereits 1791 in den „Edinburgh Fugitive Pieces“, einer Essaysammlung von William Creech, von einem Getränk namens „cauld cock“. Cauld bedeutet „kalt“. [1-214] [6] Was das für ein Getränk sein soll, wird uns leider nicht erklärt. Doch die Tatsache, daß es mit vielen anderen Getränken aufgelistet wird, läßt darauf schließen, daß damals allgemein bekannt war, was es sein sollte, und daß es zu den Standardgetränken zählte.
Am 20. März 1798 finden wir eine Erwähnung des Getränkes „cock-tail“ im „London Morning Post & Gazeteer“. [4] [7] [10-14] Wir müssen Jarred Brown und Anistatia Miller dankbar dafür sein, diesen Artikel gefunden zu haben. Am 16. März erschien in derselben Zeitung ein Artikel, demzufolge der Vermieter der „Axe & Gate Tavern“ an der Ecke Downing Street / Whitehall, nachdem er in der Lotterie gewonnen hatte, in sein Etablissement zurückgekehrt war und die angeschriebenen Schulden seiner Stammgäste strich: „A publican, in Downing-street, who had a share of the 20.000 l. prize, rubbed out all his scores, in a transport of joy: This was an humble imitation of his neighbour, who, when de drew the highest prize in the State Lottery, not only rubbed out, but actually broke scores with his old customers, and entirely forgot them“. Vier Tage später, am 20. März, erschien in derselben Zeitung ein satirischer Artikel, in dem angegeben wurde, wer für welche Getränke Schulden hatte im Herzen der britischen Politik. [1-214] [4] [10-14] [10-15] [10-16] Wir lesen dort:
OLD SCORES.
We have already stated that the Publician, the
corner of Downing-street, when he heard of his
share in the Lottery being drawn a 10,000l.
prize, washed out all scores with a mop. It
may be entertaining to lay before our readers a
list of the scores that were owing to him by the
Nobility and Gentry of the neighbourhood. –
The principal of them were as follow:
…
Mr. Pitt, two petit vers of „L’huile de Venus“ 0 1 0
Ditto, one of „perfeit amour“ – 0 0 7
Ditto, „cock-tail“ (vulgary called ginger) 0 0 3/4
Nun meint David Wondrich hierzu, es könne sich bei dem dort angegebenen Cocktail nicht um einen Cocktail im modernen Sinne gehandelt haben. Er begründet es damit, daß in dem Artikel auch Preise der verschiedenen Getränke genannt würden, und daß ein Cocktail für 3/4 Penny weitaus günstiger sei als alle anderen alkoholischen Getränke auf der Karte. [1-214] [11]
David Wondrich hat insofern recht, als uns nicht näher erklärt wird, was genau in dem Artikel mit einem Cocktail gemeint ist, und das läßt natürlich für Vermutungen einigen Spielraum. Wir sind der Auffassung, daß es unwesentlich ist, ob der in diesem Artikel gemeinte Cocktail ein Cocktail in unserem heutigen Verständnis war. Wichtig ist der Hinweis, daß die Bezeichnung „cock-tail“ gewöhnlicherweise auch für Ingwer verwendet werde: „„cock-tail“ (vulgary called ginger)“. Der hier gemeinte Cocktail muß also irgendetwas mit Ingwer zu tun gehabt haben, und insofern hat David Wondrich recht, denn Ingwer kommt standardmäßig in dem, was wir heute unter einem Cocktail verstehen, nicht vor.
Wie kommt aber diese Aussage zustande? Wieso hat ein Cocktail etwas mit Ingwer zu tun? Woher kommt diese Gleichsetzung? Die Erklärung liegt in der Pferdezucht. Es gibt zwar noch zahlreiche andere ethymologische Erklärungen dafür, woher die Bezeichnung Cocktail stammt, doch keine davon ergibt wirklich einen Sinn.
Zur damaligen Zeit war die häufigste Verwendung des Wortes Cocktail im Zusammenhang mit der Pferdezucht. Man bezeichnete damit ein Pferd mit einem kurzgeschnittenen Schweif, um damit seine Gemischtrassigkeit zu kennzeichnen. Der Schweif wurde vom Pferd dadurch hoch getragen, [4] [5] und er sah gewissermaßen wie ein Hahnenschwanz aus, wie ein cocktail, so die wörtliche Übersetzung.
Es war Praxis der englischen Pferdehändler, ihren Pferden ein Stück Ingwer in den Hintern zu schieben, damit sie lebhafter und rassiger wirkten und ihren Schweif höher trugen. Man bezeichnete dies als „gingering“ und hoffte dadurch höhere Preise zu erzielen, denn das Pferd zeigte dadurch weit geöffnete Augen und einen hochgestellten Schweif und wirkte energiereicher. [1-215] [4] Diese Praxis wurde auch „Feague“ genannt und wird beispielsweise beschrieben von Captain Grose in seinem 1788 erschienenen Buch „A Classical Dictionary of the Vulgar Tongue“. [1-215] [2] [11] Dort lesen wir:
FEAGUE. To feague a horse; to put ginger up a horse’s
him lively and carry his tail well: it is said, a forfeit is
incurred by any horse dealer’s servant, who shall shew a
horse without first feaguing him. Feague is used, figura-
tively, for encouraging or spiriting one up.
Durch den Ingwer im Hintern trug das Pferd also seinen Schweif hoch, und man verwendete den Begriff „Feague“ im übertragenen Sinne auch, um sich „aufzumuntern“. David Wondrich kommt nun zu dem Schluß, daß man in diesem übertragenen Sinne einen Cocktail zu sich nahm, nämlich um sich aufzumuntern, und daß dieses im Artikel der Morning Post ein Glas Ginger Beer oder Ale mit Ingwerextrakt gewesen sein müsse: „A cocktail is something that cocks up your tail – in the case of the Morning Post citation, that something being a glass of ginger beer or ginger extract mixed with ale.“ [1-215]
Diese Gleichsetzung zwischen Ingwer und Cocktail wird auch bestätigt durch John Badcock. 1825 schreibt er in „Sportsman’s Slang“ auf Seite 27, daß man unter Cock-tail sowohl Ingwer als auch in der Pferdezucht ein Halbblut verstand: „Cock-tail ― is ginger; and a cockt-tail horse is a half-bred, nick’d.“ [1-215] [3-27] [11]
John Badcock berichtet auch über die Praxis der Pferdehändler. Auf Seite 67 schreibt er, daß man kleine Stückchen Ingwer in den Pferdeanus einführte, um sie kurzzeitig lebhafter wirken zu lassen: „Fig, figged ― ginger; little lumps whereof are thrust into the rectum of horses to give them a short-lived vigour; they are then said to be figged, and carry better while the stimulus lasts; but horses of any original breeding afterwards flag in their disposition, as if resentful of the beastly indignity shewn them. Fellows there are who traverse Smithfield of Friday evenings seeking for old figs.“ [3-67] Als kleine Anekdote sei nicht unerwähnt, daß man interessanterweise zuvor anstelle des Ingwers lebende Aale verwendet hatte, um Pferde lebhafter erscheinen zu lassen, so wird jedenfalls auf Seite 75 berichtet: „To Feague a horse ― formerly a live eel was used, ginger being then dear. See Fig.“ [3-75]
Er berichtet auf Seite 87 auch über Ingwer, und wir lernen, daß man rotharige Personen ebenfalls „Ginger“ nannte, ebenso solche Männer, die ihr Barthaar mit gelber Seife oder anderen Hilfsmitteln ihr Barthaar färbten. Auch erklärt er uns, daß man „gingery“ als Adjektiv im Sinne von „heißblütig, mißgestimmt“ verwendete: „Ginger ― another name for red-haired persons, and ‚ginger-whiskers‘ is an appellation for such men as use yellow soap, or otherwise discolour their whiskers: ‚tis a regimental mark with some commanders. Among grooms and horse-dealers they obtain the description ‚chesnut.‘ Gingery ― (stud) hot, distempered; applied to horses, whether they have been figged or not. So, at a flash-house, ‚how gingery is Cow-cross Billy to-day; b——y eend, if he han’t had a quarrel vith all on us: I suppose he’ll fight, and I vish he may nap.““ [3-87]
Von einem Getränk berichtet uns John Badcock in diesem Buch nichts. Das holt er 3 Jahre später nach und berichtet in „Boxiana; or, Sketches of Modern Pugilism“ auf Seite 68 darüber, daß man cock-tail (sprich: Ingwer) in Gin oder Bier gab: „gin and beer, or both combined with a scratch or two of cock-tail in it“ [8-68] David Wondrich meint in diesem Zusammenhang, dieser Cock-tail müsse so etwas wie ein Ingwerextrakt gewesen sein. [1-215]
Vor diesem Hintergrund kann man auch die Satire des 1798 erschienenen Beitrags im „Morning Post and Gazetteer“ verstehen. William Pitt der Jüngere war damals Premierminister, und da er zeitlebens unverheiratet war, bot seine Sexualität Stoff für Spekulationen und derbe Witze. So erklärt sich, daß alle drei Getränke, die für ihn genannt wurden, mit einer sexuellen Konnotation verstanden werden können: „L’huile de Venus … perfeit amour … cock-tail (vulgary called ginger)“ [5]
Die Verbindung zwischen der „Behandlung“ von Pferden und dem „cock-tail“ zeigt sich auch in einer kleinen politischen Satire, die 1790 in einer provinziellen englischen Zeitung abgedruckt wurde, in der ein gewisser Geistlicher „hath been guilty of monopolizing all the ginger and pepper in the neighbourhood, to make the asses who vote for Sir Gerald Vanneck cock their tails.” [11] Die Übersetzung ist etwas delikat, da es hier anscheinend ins Vulgäre geht und David Wondrich hofft, daß die Aussage nur figurativ gemeint gewesen sein. Man könnte es vielleicht so sagen: Der Geistliche habe sich schuldig gemacht, den ganzen Ingwer und Chili (Pfeffer wird hier wohl nicht gemeint sein) der Nachbarschaft zu monopolisieren, um den Eseln (man könnte auch mit „Ärsche“ übersetzen), die für Sir Gerald Vanneck stimmten, den Schweif zu stärken (oder um die vulgäre Konnotation noch zu erhöhen: „den Schwanz aufzurichten“). Hier sehen wir also nicht nur Ingwer, sondern auch Chili gemeinsam erwähnt – so wie auch in den Cocktail-Rezepten von William Terrington im Jahr 1869, auf die wir im folgenden Kapitel noch zu sprechen kommen. Diese Verwendung von Chili statt Ingwer als Cocktailzutat bestätigt auch David Wondrich, und er bestätigt, daß in England Ingwer oder manchmal auch Chili dem Drink hinzugefügt wurde. [11] Dies geschah wohl auch in den Vereinigten Staaten, und wir lesen bei William Crawford aus Pennylvania, daß er in den Jahren nach der Revolution üblicherweise einen „’Cock-tail‘ with pepper in it“ getrunken habe, also einen Cocktail mit Chili. [11] Darüber hinaus sei noch erwähnt, daß man im 18. Jahrhundert dem Bier nicht nur Ingwer, sondern auch Chili (Cayenne) hinzufügte. [12]
Als weiteren Beleg dafür, daß die Bezeichnung ›Cocktail‹ tatsächlich, wie hier hergeleitet, auf die Zugabe von Ingwer in ein Getränk zurückgeht, sei aus einem Beitrag in Bentley’s Miscellany, erschienen im Jahr 1838 in London, zitiert. Dort wird eine Reise von New York nach Philadelphia beschrieben, und anläßlich einer Schiffsreise auf dem Delaware wird angemerkt: »Wir unterhielten uns an Deck, bis wir den Gang für uns allein hatten, denn die anderen Passagiere hatten sich alle an die Öfen in der Kajüte oder in den Barraum zurückgezogen, wo Ale-Cocktail (Ale mit Ingwer und Chili), Sangaree (Schnaps und Zucker) und Mononghahela (Whiskey) Punsch sehr gefragt waren.« [13-47] [13-47]
– »We had been talking on deck until we had the gang-way to ourselves, the other passengers having all retired to the stoves in the cabin, or to the bar-room, where ale-cocktail (ale with ginger and pepper in it), sangaree (spirits and sugar), and Mononghahela (whiskey) punch were in great demand.« [13-47] [13-47]
Wie wir sehen, macht die Zugabe von Ingwer (und hier auch ›pepper‹, womit wohl Chili gemeint sein wird) aus einem einfachen Bier einen Bier-Cocktail. Und jedes andere Getränk mit Ingwer ist entsprechend unserer herleitung ebenfalls ein ›Cocktail‹.
Quellen
explicit capitulum
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