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Die soziokulturelle Geschichte des Pousse Cafés. Teil 2: Hanna Diyāb

Titelbild: Constantinople and the scenery of the seven churches of Asia Minor, 1839, Seite 58.

Die osmanische Kaffeehauskultur gelangte nach Frankreich, und Hanna Diyāb berichtet in seinem bisher weitgehend unbeachteten Reisebericht darüber. Hören wir also einem Augenzeugen der damaligen Zeit zu.

Als verbindendes Element nicht nur zwischen osmanischer und französischer Kaffeehauskultur möchten wir Hanna Diyāb zitieren. Vor wenigen Jahren ist sein bisher unbekanntes Autograf aufgetaucht, das ein wertvolles Zeitdokument darstellt. [3-442]

Wer war Hanna Diyāb?

Hanna Diyāb taucht in keinem historischen Handbuch und keiner Literaturanthologie auf, [3-442] obwohl er einen wesentlichen Anteil an einem Teil der Weltliteratur hat. Er wurde um 1688 geboren und stammt aus Aleppo. Paul Lucas, der im Auftrag des französischen Sonnenkönigs das Osmanische Reich bereiste, nahm ihn in seine Dienste und beide reisten schließlich gemeinsam nach Paris. [4] Paul Lucas veröffentlichte zwar einen Reisebericht, doch seinen Begleiter erwähnte er darin nicht. Hanna Diyāb hingegen, der in seinem Autograph dieselbe Reise beschreibt, erwähnt seinen »Meister« Paul Lucas unablässig. [3-444] In Paris traf Hanna den Orientalisten Antoine Galland, der ›Tausendundeine Nacht‹ ins Französische übersetzte. Auch dieser hielt es nicht für nötig, Hanna öffentlich zu erwähnen, obwohl Hanna ihm die Erzählung von ›Aladin und die Wunderlampe‹, ›Ali Baba und die vierzig Räuber‹ und vierzehn weitere Erzählungen aus ›Tausendundeine Nacht‹ mitteilte. In Antoines Gallands Vorlagen fehlten diese Geschichten nämlich. Da man keine weiteren Quellen für diese Geschichten kennt, wären sie ohne Hannas Anwesenheit in Paris verloren gegangen. [3-444] [3-445] [3-456]

Hanna Diyābs Reisebericht

Den Bericht über seine Reise nach Paris und zurück nach Aleppo verfasste Hanna 54 Jahre nach seiner Rückkehr. [3-450] Dieser Bericht liefert uns nicht nur wichtige Einblicke in die osmanische Kaffeekultur, sondern auch in die französische. Die Wichtigkeit des Kaffees stellt auch Bernhard Heyberger in seinem Nachwort zu Hannas Bericht klar, als er schreibt: »Für ihn wie für Paul Lucas waren Empfehlungsschreiben, aber auch die sozialen Rituale der Gastfreundschaft bei einer Pfeife und einem Kaffee wesentliche Elemente, um das Gewebe der sozialen Beziehungen über große Entfernungen hinweg aufrechtzuerhalten.« [3-470]

Die Reise von Aleppo nach Paris

Was genau berichtet nun Hanna Diyāb? Fassen wir es am besten einmal zusammen. Sein Meister und er tranken im ägyptischen Medinet el-Faiyūm Kaffee am Morgen, als sie bei Pater Giovanni Battista della Fratta wohnten. [3-75] [3-77] Dort wurden sie vom Gouverneur der Stadt eingeladen, ihn täglich zu besuchen. Gemeinsam tranken sie mit ihm jeden Morgen Kaffee. Sie besuchten ihn auch zu Sonnenuntergang, und wurden mit Kaffee empfangen. Dann rauchte man Pfeifen mit Tabak, und diskutierte dabei eine Stunde lang. Schließlich wurde das Essen aufgetragen, wobei man Wein trank, auch der Gouverneur, obwohl er Muslim war. Zum Dessert gab es Süßigkeiten und Früchte, danach erneut Kaffee, und man stieg in den Garten hinunter, mit seinen Bächen und Teichen. Nach Einbruch der Nacht verabschiedeten sie sich vom Gouverneur. [3-79] [3-83] Nahebei wurden sie bei einem Ausflug von einem Soldaten zum Mittagessen eingeladen, das mit einem Kaffee abgeschlossen wurde. [3-86]

In Dscherba erhielten sie eine Audienz beim Gouverneur. Sie kamen bei ihm an und »Daraufhin lud er uns ein, Platz zu nehmen. Als wir saßen, befahl er seinen Dienern, uns Getränke zu bringen sowie Süßigkeiten und Kaffee nach der Gewohnheit ihres Landes.« [3-120]

Sie reisten weiter nach Sfax und trafen auch dort den Gouverneur: »Wir übergaben ihm den Brief des Beys und denjenigen des Gouverneurs von Dscherba. Nachdem er sie gelesen hatte, hieß er uns willkommen und bat uns, Platz zu nehmen. Daraufhin brachte man uns Getränke und Kaffee, wie es der Brauch ist … .« [3-123]

Über Tripolis berichtete Hanna: »Drei Tage später lud der Konsul meinen Meister ein, dem Bey, welcher der Sultan von Tunis war, ihre Aufwartung zu machen. …Der Bey saß im Pavillon des Frühlings. … Er ließ uns eintreten; … Als alle saßen, brachte man uns die Getränke und den Kaffee, wie es Sitte ist.« [3-132]

In Tunis geschah folgendes: »An einem anderen Tag lud uns ein Händler zu sich nach Hause ein, damit wir dort nach einem Kranken sähen, den er bei sich hatte. Wir gingen hin; er empfing uns mit allen Ehren. Nachdem mein Meister den Kranken untersucht hatte, bereitete uns der Händler ein köstliches Mahl. Als wir fertig waren und den Kaffee zu uns genommen hatten, zeigte er uns sein Serail.« [3-135] [3-136]

Schließlich erreichten Hanna und sein Meister das italienische Livorno. Von dort berichtete Hanna, wie er auf der Straße auf arabisch angesprochen wurde, von einem Mann, der so wie er selber aus Aleppo stammte und in Livorno ein Kaffeehaus betrieb: »Wir umarmten uns und gaben uns die Hand. Er bat mich, Platz zu nehmen. Nachdem er mich gastfreundlich empfangen hatte, bot er mir Kaffee an und brachte mir eine Tabakpfeife. Wir setzten uns, um uns zu unterhalten, und es entstand ein vertrautes Verhältnis zwischen uns. Ich besuchte ihn jeden Tag und fragte ihn über die Sitten dieses Landes aus, und er erklärte mir ihre Gebräuche.« [3-164] [3-165]

Die Reise von Paris nach Aleppo

Überspringen wir nun Hannas Berichte aus Paris, auf die wir später noch zu sprechen kommen, und widmen uns stattdessen der Rückreise Hannas nach Aleppo, die er alleine unternahm. Wieder im Osmanischen Reich angekommen, berichtete er über ein Jesuitenkloster in Smyrna: »Sie begrüßten sich, dann betraten wir das Refektorium. Der Vorsteher bot uns Kaffee an und behandelte uns mit Ehrerbietung.[3-320]

In Istanbul traf er einen Landsmann aus Aleppo: »Dann lud er mich und meinen Begleiter in seinen Laden ein. Wir traten ein, und er bot uns Kaffee an und erwies uns Ehre, wie es sich ziemt.« [3-328] Über des Botschafters Besuch einer Feierlichkeit beim Sultan berichtete er: »Der Botschafter setzt sich in den für ihn bestimmten Sessel. Man bietet ihm Erfrischungen an, Süßigkeiten, Kaffee und Weihrauch.« [3-332] Diese Notiz kommentiert und korrigiert der Übersetzer mit den Worten: »Hanna, der nicht unmittelbar Zeuge dieser Zeremonie war, verkehrt den Verlauf des Protokolls. Normalerweise wurden der Botschafter und sein Gefolge vom Großwesir in den Ratssaal gebeten, um an einer Versammlung teilzunehmen; danach bot man ihnen ein Mahl an. Erst am Ende dieses Mahles, nachdem die Zustimmung des Sultans erfolgt war, wurden sie in seiner Gegenwart hereingeführt.« [3-434]

Auf Hannas weiterer Rückreise nach Aleppo wurde er von Dorfbewohnern zu einem Mahl eingeladen und er schrieb: »Wir aßen mit dem jungen Mann zusammen, und am Ende des Mahls brachten sie ein Becken mit Wasserkannen, und wir wuschen uns die Hände. Danach brachten sie eine große Kaffeekanne und boten uns eine erste, dann eine zweite Runde guten Kaffee an. Wir stopften unsere Pfeifen und plauderten eine Weile mit dem jungen Mann.« [3-347] [3-348] Auch hieß es von dort: »Dort sah ich, daß sie uns ein Frühstück und Kaffee aufgetischt hatten.« [3-350]

Im weiteren Verlauf der Reise berichtete Hanna: »Man hatte uns ein Abendessen zubereitet. Wir speisten und tranken danach Kaffee.« [3-355] »Nach dem Frühstück und dem Kaffee blieben wir noch ein Weilchen und unterhielten uns … .« [3-359] »Nachdem wir gegessen und den Kaffee getrunken hatten, brachte man die junge Frau … .« [3-360]

»In der Residenz des Qabidschi angelangt, stiegen sie die Treppe hinauf und führten mich hinein. Als ich vor ihm erschien, betrachtete er mich finsteren Blicks: … Er beruhigte sich und hieß mich setzen. Er ließ mir eine Tasse Kaffee bringen.« [3-366] Der Qabidschi hieß ihn einen Kranken zu behandeln. Über diesen Kranken berichtete Hanna: »Er öffnete die Augen und setzte sich in seinem Bett auf. Er verlangte nach einer Tabakpfeife und einer Tasse Kaffee.« [3-368] Hanna kehrte zurück zum Qabidschi, »Er ließ mich aber nicht gehen und hieß mich Platz nehmen und ließ Kaffee und eine Pfeife kommen. Als ich den Kaffee getrunken hatte, begann er mich auszufragen.« [3-369] Es folgt eine wichtige Aussage, die wir hier überspringen, um später darauf zurück zu kommen.

Im weiteren Verlauf seiner Reise ging Hanna zum Agha von Missis, der Gouverneur einer Stadt war: »Als ich vor ihn trat, hieß er mich willkommen und forderte seine Diener auf, mir die Stiefel abzunehmen, worauf er mich bat, Platz zu nehmen. Er befahl, mir eine Tasse Kaffee und eine Tabakpfeife zu bringen. Ich war erstaunt und begann zu überlegen, welches die Gründe für diese Ehrerbietung und Höflichkeiten waren vonseiten eines Mannes solchen Ranges, eines Stadtgouverneurs.« [3-375] Er kehrte nach dem Gespräch ins Karawanen-Lager zu seinen Gefährten zurück. »Als der Abend kam, fragten wir uns, was wir essen sollten. In diesem Moment wurde uns ein üppiges Mahl gebracht. Es enthielt drei verschiedenen Gerichte. Die Diener baten uns, Platz zu nehmen, und forderten uns zum Essen auf. Wir ließen uns auf der Wiese am Fluss nieder und genossen ein üppiges Abendessen. … Eine Kanne Kaffee wurde gebracht, ebenfalls vom Agha geschickt.« [3-377]

Hanna traf auch auf einen Freund aus Aleppo, der ihn mit in sein Haus nimmt: »Sie deckten den Tisch und trugen köstliche Gerichte auf. Er wollte mir noch eine Tasse Arak eingießen. Ich nahm nichts mehr davon, doch tranken wir zum Essen einen guten Wein. Schließlich nahmen wir Kaffee zu uns und ergingen uns im Garten.« [3-381] [3-382]

Hanna erreichte schließlich Aleppo und berichtete zum Abschluß seiner Erzählung über einen späteren Besuch von Paul Lucas: »Ich bereitete ihm ein Bett, so bequem wie möglich. Er schlief bis zum nächsten Morgen. Wir nahmen den Kaffee zu uns und gingen zusammen in die Stadt.« [3-386]

Wie wir aus diesen Angaben ersehen können, spielte Kaffee eine zentrale Rolle in der osmanischen Gastfreundschaft. Man reichte ihn nicht nur beim Sultan, sondern auch bei einfachen Dorfbewohnern. Man trank ihn am Morgen, zur Begrüßung oder nach einem Mahl. Man rauchte dazu Pfeife, führte Gespräche und reichte auch Süßigkeiten.

In Paris

Kommen wir nun zur Kaffeekultur in Frankreich. Bevor wir einen allgemeinen Ausblick geben, wenden wir uns auch hier erst einmal Hanna Diyāb zu. Was berichtete er aus seiner Zeit in Paris? »Unsere Ankunft in Paris geschah im Monat Februar des Jahres 1709.« [3-215] Ebenfalls im Jahr 1709 geschah in Paris folgendes: »Auf dem Weg kamen wir an dem Kaffeeladen des Chawādscha Estephan, dem Damaszener vorbei.« [3-293] Der Übersetzer präzisiert diese Angabe: »Arabisch ‚Iṣṭifān al-Šāmī. Antoine Galland nennt ihn Étienne und sagt, er sei aus Aleppo.« [3-429]

Hanna Diyāb fährt fort: »Dieser Mann hegte große Sympathie für mich. Zwischen ihm und mir bestand Freundschaft und Zuneigung, und zwar aus folgende Grund: Bei meiner Ankunft in Paris hatte mir mein Meister aufgetragen, mich zur Begrüßung zu ihm zu begeben, denn er war ein Landsmann, und er hatte mir seine Geschichte erzählt. Als dieser Mann in Paris angekommen war, mußte er betteln, aber niemand gab ihm ein Almosen. Er sah sich gezwungen, den Chawādscha Cristofalo Zamariya aufzusuchen und ihn zu bitten, von Seiner Exzellenz, dem Kardinal, ein Schreiben zu erwirken, das ihm erlaubte, vor dem Portal von Notre-Dame zu betteln. Den Chawādscha rührte sein Schicksal, und da er der Stellvertreter des Kardinals war, der ihn sehr schätzte, gab dieser ihm einen eigenhändig unterschriebenen Brief, in dem er darum bat, man möge barmherzig gegen ihn handeln, da er fremd sei und die Prüfung seines Falles ergeben habe, daß er arm und bedürftig sei. Er nahm den Brief und stellte sich am Portal auf, um zu betteln. Dieses Hirtenwort des Kardinals bewirkte, daß die Menschen sich großzügig gegen ihn erwiesen. Dank dieser Almosen trug er fast zweihundert Piaster zusammen. Nun war es die Zeit um das Fest des heiligen Michel. In Paris gibt es sieben Viertel, von denen jedes den Namen eines Heiligen trägt. Am Festtag des Heiligen finden auf dem Platz seines Viertels sieben Tage lang Lustbarkeiten statt. In diesen Tagen wird dort verkauft und gekauft, und es werden Darbietungen gegeben. Menschen aus verschiedenen Dörfern kommen zum Verkaufen und Kaufen, denn alle Geschäfte sind vom Zoll und den üblichen Steuern befreit, die sonst zu bezahlen sind. … Kehren wir zu unserem Gegenstand zurück. Einige wohlmeinende und dem Schicksal der Armen und Fremden gegenüber aufgeschlossene Personen hatten diesem Estephan, von dem wir gesprochen haben, geraten, zwei Kaffeekannen, einige Tassen und alles, was man zur Kaffeezubereitung benötigte, zu kaufen und zum Fest des heiligen Michel zu gehen, das gerade stattfand. Er tat, wie ihm geraten worden war, und eröffnete ein Kaffeehaus. Da er ein Orientale war, drängten sich die Kunden bei ihm, denn es gab keine anderen Kaffeehäuser. Zu dieser Zeit waren die Kaffeehäuser in Paris nicht verbreitet; und alles, was neu ist, ist schön. Es drängten sich so viele Kunden im Café, daß Estephan nicht mehr zum Bedienen kam. Er verschaffte sich eine Lizenz, um Hilfen einzustellen. Kurz: Innerhalb von sieben Tagen verdiente er zusätzliche zweihundert Piaster, und als das Fest vorbei war, kehrte er in die Stadt zurück, wo er einen Kaffeeladen eröffnete. Er hatte so viele Leute und Kunden, daß er in der Zeitspanne eines Jahres eine schöne Summe Geld gemacht hatte, und sein Name, Estephan der Kaffeehausbesitzer, verbreitete sich in der Stadt Paris. Viele Notabeln, Händler und andere aus den sieben Vierteln der Stadt besuchten diese Einrichtung. Sein Name verbreitete sich bis nach Versailles zum Palast des Königs. Der Minister ließ ihn zu sich rufen und hieß ihn ein Café in Versailles eröffnen, damit die Söhne der Prinzen nicht seinen Laden in Paris besuchten. Er kam der Aufforderung nach, eröffnete dort ein Café und kümmerte sich um die Kaffeeversorgung im Königspalast. Er machte die Bekanntschaft wichtiger Persönlichkeiten des Staates und erwarb sich einen großen Ruf.« [3-293] [3-294] [3-295]

Desweiteren berichtete Hanna über Estephan: »Er verband sich mit einer sehr reichen Witwe, Eigentümerin von Hab und Gut, die ihn zum Gemahl nehmen wollte. Sie schickte einen Unterhändler, ihm den Vorschlag zu unterbreiten. Er nahm das Angebot an, heiratete sie und hatte mit ihr eine Tochter. Diese Tochter bekam eine Krankheit, durch die sie verkrüppelt wurde. Estephan schickte jemanden mit dem Auftrag zu mir, mir Folgendes mitzuteilen: ›Der Chawādscha Estephan wurde beauftragt, in Versailles ein Café zu eröffnen. Er wünscht dich mit seiner Tochter zu verheiraten und dir das Café in Paris anzuvertrauen. Die Kunden werden sich besser fühlen mit dir als mit einem Sohn des Landes, denn du bist Orientale.‹ Ich hatte diese Tochter bereits gesehen. Sie war schön, aber sie war behindert. Nachdem ich diese Worte gehört hatte, antwortete ich, man möge mir Bedenkzeit einräumen, um mich mit meinem Meister zu beraten; ich würde ihm danach meine Antwort geben.« [3-296] Hanna heiratete die Tochter nicht.

Was bedeutet Hanna Diyābs Bericht? – Die ersten Kaffeehäuser in Paris

Was Hanna uns hier aus Paris berichtet, ist außerordentlich wichtig, denn er kann als direkter Zeuge dieser Ereignisse gelten. Er berichtet uns die Lebensgeschichte des Estephan aus Aleppo, so wie er sie von ihm selbst gehört hatte. Diese Quelle wurde in der Forschung zur französischen Kaffeekultur bislang nicht ausreichend beachtet, denn sie zeigt uns, daß viele Aussagen, die bisher getroffen wurden, so nicht mehr haltbar sind. In diesem Zusammenhang müssen wir uns mit den Personen beschäftigen, die in Paris die ersten waren, die Kaffee ausschenkten und Kaffeehäuser eröffneten.

Vorab sei eine kurze Betrachtung gemacht, über welche Jahre berichtet wird. Hanna Diyāb lehnte die vorgeschlagene Heirat ab, und aufgrund anderer Vorkommnisse verließ er Europa, um zurück nach Aleppo zu gehen. Wenn wir diese Erzählung zugrunde legen, muß die Aufforderung, in Versailles ein Kaffeehaus für die Prinzen zu errichten, spätestens um 1709 erfolgt sein. Als sicher kann gelten, daß es 1710 bereits eröffnet war, ansonsten hätte Hanna nicht geschrieben, daß Estephan dieser Aufforderung nachgekommen sei. Leider gibt Hanna uns nicht das Jahr an, in dem Estephan auf dem Markt von Saint Germain seinen Kaffee angeboten hat. Da er jedoch danach geheiratet und eine Tochter im heiratsfähigen Alter hatte, muß dies eine geraume Zeit vor 1710 gelegen haben; man mag grob einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren ansetzen, was uns dann in die Zeit zwischen 1680 und 1690 zurück versetzen würde. Da Hanna um 1688 geboren wurde, wäre die Tochter des Estephan dann ungefähr gleichaltrig.

Die zuvor zitierte Anmerkung des Übersetzers ist nicht ganz korrekt. Es war nicht Antoine Galland, der Estephan Etienne nannte oder über die Ereignisse berichtete. Der zitierte Beitrag namens »Fragments sur le café, extraits du Dictionnaire d’Historie naturelle« erschien zwar zusammen mit einem Beitrag Antoine Gallands, stammt aber, wie der Titel es schon belegt, aus einem 1803 erschienenen Lexikon und nicht aus der Feder des Antoine Galland. [5] [6] [7] Es liegen dort also zwischen den tatsächlichen Ereignissen und der Drucklegung fast einhundert Jahre, und zudem kommt kein unmittelbar Betroffener zu Wort. Das mag die Unstimmigkeiten darin erklären. Das Lexikon berichtet: »Das erste öffentliche Kaffeehaus wurde auf dem Jahrmarkt von S. Germain von einem Armenier im Jahr 1672 eröffnet. Danach ließ er sich am Quai de l’Ecole nieder, wo man noch heute einen Laden an der Ecke zur Rue de la Monnaie sieht. Das Haus wurde nur von Malteserrittern und Ausländern besucht. Nachdem er Paris verlassen hatte, um nach London zu gehen, hatte er mehrere Nachfolger. Schließlich eröffnete ein gewisser Etienne aus Aleppo als erster in Paris ein Kaffeehaus, das mit Spiegeln und Marmortischen dekoriert war; es befand sich in der Rue S. André-des-arcs, gegenüber der Brücke S. Michel.« [3-430] [5-65]

Anonymus: Nouveau dictionnaire d'histoire naturelle. Band IV, 1803, Seite 65.
Anonymus: Nouveau dictionnaire d’histoire naturelle. Band IV, 1803, Seite 65. [5-65]

»La première salle de café publique, fut construite à la foire S. Germain, par un Arménien, en 1672. Depuis, il s’établit sur le quai de l’Ecole, où l’on voit encore une boutique au coin de la rue de la Monnaie. La salle n’étoit fréquentée que par des chevaliers de Malte et par des étrangers. Ayant quitté Paris pour aller à Londres, il eut plusieurs successeurs. Une tasse de café, à cette époque, se vendoit deux sols six deniers. Enfin un certain Etienne d’Alep construisit le premier, à Paris, une salle décorée avec des glaces et des tables de marbre; elle étoit dans la rue S. André-des-arcs, vis-à-vis le pont S. Michel.« [5-65]

Vorab sei darauf hingewiesen, das der Vorname ›Stefan‹ in verschiedenen Schreibweisen immer wieder in den Quellen genannt wird, entweder als ›Iṣṭifān‹, oder in der französischen Schreibweise ›Étienne‹, [15] oder als ›Estephan‹ der spanischen Schreibweise ›Eteban‹ [16] nicht unähnlich.

Und nun kommen wir zur allgemeinen Verwirrung der Namen: Wie wir aus Hannas Aussage ersehen können, kam ›sein‹ Estephan aus Aleppo, der im Lexikon genannte Étienne ebenfalls. Beide errichteten zwar auf dem Markt von St. Germain einen Kaffeestand und  anschließend in Paris ein Kaffeehaus. Estephan war noch 1710 in Paris, und wie wir dargelegt haben, muß er schon vor 1680 bis 1690 dort Kaffee ausgeschenkt haben. Étienne soll Paris verlassen haben, um nach London zu gehen. Estephan vielleicht auch, wir wissen es nicht. Es scheint, daß beide identisch seien, aber wir glauben es nicht.

Überhaupt scheint die Geschichte der ersten Kaffeehäuser in Paris nicht eindeutig bekannt zu sein. Denn diese Lebensgeschichte wird auch über eine dritte Person erzählt, die Pascal heißen soll; eine im Jahr 1832 in Paris erschienene Monographie über den Kaffee berichtet uns über die Entstehung der ersten Kaffeehäuser: »Der Armenier Pascal gründete einige Jahre später (1672) ein Café auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain. Als die Zeit des Jahrmarkts abgelaufen war, verlegte er sein Lokal an den Quai de I’Ecole, gegenüber der Pont-Neuf. Es war aber immer noch nur ein Saal, in dem sich Ausländer und einige Ritter von Malta versammelten. Da sein Café nicht gut besucht war, machte sich Pascal auf den Weg nach London.« [9-30]

G.-E. Coubard: d'Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 30.
G.-E. Coubard: d’Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 30. [9-30]

»Pascal, Arménien, quelques années après (1672), établit un Café à la foire Saint-Germain. Le temps de la foire écoulé, il transporta son établissement an quai de I’Ecole, vis-à-vis le Pont-Neuf. Mais ce n’était encore qu’une salle où se réunissaient des étrangers et quelques chevaliers de Malthe. Son café étant peu fréquenté, Pascal partit pour Londres.« [9-30]

»Kurz darauf eröffnete Maliban, ein weiterer Armenier, ein neues Café in der Rue de Bussy, in der Nähe des Jeu de Paume, in der Nähe der Abtei Saint-Germain. Von dort aus zog er in die Rue Férou in der Nähe von Saint-Sulpice, kehrte aber bald in sein erstes Lokal in der Rue de Bussy zurück. Da Maliban wegen einiger Geschäfte nach Holland ziehen musste, übergab er sein Café an Gregoire … .« [9-31]

G.-E. Coubard: d'Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 31.
G.-E. Coubard: d’Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 31. [9-31]

»Peu de temps apres, Maliban, autre Arménien, ouvrit un nouveau Café dans la rue de Bussy, près le jeu de paume, aux environs de I’abbaye Saint-Germain. II passa de là dans la rue Férou près Saint-Sulpice, mais bientôt il revint dans son premier local de la rue de Bussy. Quelques affaires I’ayant contraint de partir pour la Hollande, Maliban céda son Café a Gregoire … .« [9-31]

»Ein gewisser Etienne aus Aleppo eröffnete schließlich als erster in Paris einen mit Spiegeln und Marmortischen geschmückten Saal in der Rue Saint-André-des-Arts, gegenüber der Brücke Saint-Michel.« [9-31]

G.-E. Coubard: d'Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 31, #2.
G.-E. Coubard: d’Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 31, #2. [9-31]

»Quelques autres petits établissements s’étaient formés successivement lorscpi’enfin un un certain Étienne, d’Alep, ouvrit le premier, à Paris, une salle ornée de glaces et décorée de tables de marbre, rue Saint-André-des-Arts, vis-à-vis le pont Saint-Michel.« [9-31]

Andere, zumeist jüngere Veröffentlichungen berichten von der einen oder anderen Version, von dem einen oder anderen Namen, die nach allem, was wir hier aufgeführt haben, wohl miteinander im Widerspruch stehen müssen. [1] [2-92] [8-87] [12-8] [12-9] [13-89] Dabei taucht sogar noch ein anderer Name auf, denn ›Pascal‹ soll auch ›Harouthioun‹ genannt worden sein. [13-89]

Auch wird immer wieder gesagt, die Kaffeehausbesitzer hätten anfangs mangels Besucher keinen Erfolg gehabt, [2-92] [5-65] [8-87] [8-88] [9-30] und Franzosen wären zunächst nicht bereit gewesen, diese Geschäfte zu betreten, da sie den Kaffee dort nicht für gut gefunden hätten und die Räumlichkeiten nicht luxuriös genug ausgestattet gewesen seien. [8-88] Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Aussagen des Hanna Diyāb.

Ebenso stehen die Aussagen im Widerspruch zu einem im Jahr 1671 in Paris veröffentlichtem Buch über Kaffee. Denn in diesem Buch heißt es: »Und gegenwärtig gibt es in Paris mehrere Läden, in denen der Kaffee mit folgendem Lob öffentlich verkauft wird.« [14-23]

Sylvestre Dufur et. al.: De l'usage du caphé, du thé et du chocolate. 1671, Seite 23.
Sylvestre Dufur et. al.: De l’usage du caphé, du thé et du chocolate. 1671, Seite 23. [14-23]

»Et presentement à Paris, il y a plusieurs Boutiques. où l’on vend publiquement le Caffé avec l’eloge suivant.« [14-23]

Außerdem wird im Jahr 1832 berichtet, daß bereits unter Ludwig XII, der von 1610 bis 1643 König von Frankreich und Navarra war, [10] Kaffee in Paris erhältlich war: »Wir wissen nur, daß unter Ludwig XIII. im Petit Châtelet ein Sud aus Kaffee unter dem Namen Cabové oder Cahovet verkauft wurde. Es dauerte jedoch lange, bis dieses Getränk in Frankreich eine gewisse Beliebtheit erlangte. Im Jahr 1662 gab es in Paris noch keine öffentlichen Cafés.« [9-29] [9-30]

G.-E. Coubard: d'Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 29-30.
G.-E. Coubard: d’Aulnay Monographie du café. 1832, Seite 29-30.  [9-29] [9-30]

»Nous savons seulement que sous Louis XIII, il se vendait sous le Petit Châtelet de la décoction de Café, sous le nom de Cabové ou Cahovet. Mais cette boisson fut long- temps à obtenir quelque faveur en France. Il n’y avait point encore de Cafes publics dans Paris en 1662.« [9-29] [9-30]

Johann Beckmann Physikalisch-ökonomische Bibliothek. Siebenter Band. 1776, Seite 94.
Johann Beckmann Physikalisch-ökonomische Bibliothek. Siebenter Band. 1776, Seite 94. [11-94]

Gleiches wurde im Jahr 1770 bestätigt: »Schon unter Ludwig XIII bot man in Paris ein Decoct von Cahove oder Cahovet, das ist von Kaffe, verkauft.« [11-94]

Petit Châtelet, um 1650.
Petit Châtelet, um 1650. [17]

Es gab also mehr Kaffee im Ausschank als uns die zuvor zitierten Quellen glauben machen wollen. Wem soll man nun Glauben schenken? Wir glauben jedenfalls Hanna, denn er ist von allen, die über die Geschehnisse berichten, derjenige, der Zeitzeuge war und direkt von einem der Beteiligten die Geschichte gehört hatte. Das zeichnet ihn vor allen späteren Autoren aus.

Der Verkauf von Kaffee auf Jahrmärkten und in Kaffeehäusern ist jedoch in eine europäische und französische Kaffeekultur eingebettet und hätte ohne dieses Umfeld nicht so erfolgreich sein können. Wir müssen uns im nächsten Kapitel also mit dieser Kultur beschäftigen.

Quellen
  1. https://thegoodlifefrance.com/the-history-of-coffee-in-france/ Sue Aran: The history of coffee in France.
  2. https://archive.org/details/AllAboutCoffee/page/91/mode/2up?q=frenchAb William H. Ukers: All about coffee. New York, 1922.
  3. Hanna Diyāb: Von Aleppo nach Paris. Die Reise eines jungen Syrers an den Hof Ludwigs XIV. Die Andere Bibliothek, Band 378. ISBN 978-3-8477-0378-5. Berlin, 2016.
  4. https://en.wikipedia.org/wiki/Hanna_Diyab Hanna Diyab.
  5. https://archive.org/details/nouveaudictionna41803/page/64/mode/2up?q=%22etienne+d%27Alep%22 Anonymus: Nouveau dictionnaire d’histoire naturelle appliquée aux arts, principalement à l’agriculture et à l’économie rurale et domestique. Band IV. Paris, 1803.
  6. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k3149963.image Antoine Galland: De l’Origine et du progrez du café. Sur un manuscrit arabe de la Bibliothèque du Roy. Paris 1699.
  7. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6581311r/f61.item.texteImage Antoine Galland: De l’Origine et du progrès du café, opuscule du XVIIe siècle par Galland, auteur des mille et und nuits. Nouvelle édition augmentée d’instructions sur les propriétés de cette fève et le meilleur procédé pour en obtenir la boisson dans toute sa perfection. Paris, 1836. Darin: Fragments sur le café.
  8. https://archive.org/details/revuedestudesa02soci Anonymus: Revue des études arméniennes. Tome I. Paris, 1922.
  9. https://archive.org/details/b21525420/page/28/mode/2up?q=%22%C3%89tienne+d%27alep%22 G.-E. Coubard d’Aulnay: Monographie du café, ou manuel de l’amateur de café, ouvrage contenant la description et la culture du cafier, l’histoire du café, ses caractères commerciaux, sa préparation et ses propriétés; orné d’une belle lithographie. Paris, 1832.
  10. https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_XIII. Ludwig XIII.
  11. https://archive.org/details/physikalischkon08beckgoog/page/n46/mode/2up?q=Cahovet Johann Beckmann: Physikalisch-ökonomische Bibliothek worinn von den neuesten Büchern, welche die Naturgeschichte, Naturlehre, und die Land- und Stadtwirthschaft betreffen, zuverlässige und vollständige Nachrichten ertheilet werden. Siebenter Band. Göttingen, 1776.
  12. https://archive.org/details/annalesdhyginep10unkngoog/page/n14/mode/2up?q=%22%C3%89tienne+d%27alep%22 Annales d’hygiène publique et de médecine légale. Deuxième série, tome XVIL. Paris, 1862. Darin: M. A. Chevallier: Du café. Son historique, son usage, son utilité, ses altératios, ses succédanés, les falsifications qu’on lui fait subir; condamnations prononcées contre les falsificaturs.
  13. https://archive.org/details/fooddrinkinhisto00balt/page/86/mode/2up?q=%22%C3%89tienne+d%27alep%22 Anonymus: Annales d’hygiène publique et de médecine légale. Deuxième série. Tome XVII. Paris, 1862.
  14. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k87051147/f49.image.r=paris Sylvestre Dufur, Bartolome Marradón, Antonio Colmenero de Ledesma, Jacob Spon: De l’usage du caphé, du thé et du chocolate. Lyon, 1671.
  15. https://de.wikipedia.org/wiki/Etienne Etienne.
  16. https://de.wikipedia.org/wiki/Esteban Esteban.
  17. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Petit_Ch%C3%A2telet_1650.jpg Le Petit Châtelet, um 1650.

explicit capitulum
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Hallo, ich bin Armin, und in meiner Freizeit als Blogger, freier Journalist und Bildungstrinker möchte ich die Barkultur fördern. Mein Schwerpunkt liegt auf der Recherche zur Geschichte der Mischgetränke. Falls ich einmal eine Dir bekannte Quelle nicht berücksichtigt habe, und Du der Meinung bist, diese müsse berücksichtigt werden, freue ich mich schon darauf, diese von Dir zu erfahren, um etwas Neues zu lernen.