Dies ist mit Abstand das älteste Mischgetränk mit Sake, das wir finden konnten. Ein kleines Juwel, überliefert in einer kleinen Randnotiz aus dem Jahr 1927.
70 ml Île Four Junmai Daiginjo Sake
15 ml Antica Formula Wermut
Zubereitung: Gerührt.
Alternativ und von uns aktuell bevorzugt:
45 ml Fukuju Kobe Special (Junmai Sake)
30 ml Antica Torino rosso vermouth
Zubereitung: 3 Eiswürfel, 2 Minuten gelegt (kein Rühren).
1927 erwähnt Arthur Moss im Anhang von Harry McElhones Buch „Barflies and Cocktails“, in dem auch der Boulevardier Cocktail erstmals publiziert wurde, ein Mischgetränk, das als „Kleginite“ bezeichnet wird. Auf deutsch würde man es Kleginit nennen. Wie wird dieses Kleginit nun beschrieben, und woher stammt es? „Dieser angesehene Wissenschaftler, Richard Klegin,“ so schreibt Arthur Moss, „hat aus seinem gigantischen Hirn heraus einen echten Mörder entwickelt. „Kleginit“ nennt ihn dieser Kamerafreund, und er ist stark genug, um sogar einen Kleagle des Ku Klux Klans zu bestrafen. Darüber hinaus auch einfach: 1/2 italienischer Wermut und 1/2 japanischer Sake. Ist Wissenschaft nicht wunderbar?“ – „That distinguished scientist, Richard Klegin, has evolved from his giant brain a real killer. „Kleginite,“ this kamerafiend kalls it, and it’s potent enough to korrect even a Kleagle of the Ku Klux Klan. Simple, too: 1/2 Italian vermouth and 1/2 Japanese sake. Ain’t science wonderful?“ [1]
Ein Kleagle ist ein Offizier des Ku-Klux-Klans, dessen Hauptaufgabe darin besteht, neue Mitglieder zu rekrutieren. [16] Abgesehen von dem Wortspiel, welches in dieser Beschreibung mitspielt – klingt doch Kleginit so ähnlich wie Kleagle-nit – versteht der uneingeweihte Leser zunächst einmal nicht die ganze Dimension dieses Eintrags. Was für ein Kamerafreund ist dieser angesehene Wissenschaftler, und was hat es mit dem Kleginit wirklich auf sich? Kleginit scheint etwas Seltenes zu sein, denn eine Suche im Internet liefert nur zwei Treffer. Zum einen Arthur Moss‘ obigen Hinweis aus Paris und dann noch einen drei Jahre älteren Artikel aus dem in Chicago erschienenen Beitrag im Radio Digest. [2] Dieser Beitrag erhellt vieles:
„Neuer Todesstrahl „Experte“ sieht eine Anzahl von Straßen auf der Sonne; Café ist Laboratorium“ – so wird dort die Aufmerksamkeit des Lesers erheischt. Man fährt fort mit: „Der ehemalige Manager des schwarzen Preiskämpfers verblüfft französische Wissenschaftler mit Berichten – Ein neuer Strahl namens „Kleginit“ – Eine gewöhnliche Kamera, die diese wunderbare Erfindung einsetzt, macht Photographien aus 30 Meilen Entfernung
PARIS – Eines der bizarrsten Nebenprodukte der „Todesstrahl“-Verrücktheit ist das Auftauchen eines neuen „Wissenschaftlers“ in Paris, eines Richard Clegin, der früher vor allem als ehemaliger Manager von Joe Gans, dem schwarzen Preiskämpfer, bekannt war. Das Büro von Herrn Clegin befindet sich, wie er selbst sagte, in der Ritz-Bar in Paris. Von diesem Ort aus hat er den pariser Journalisten die Entdeckung eines neuen, bisher recht unbekannten Strahles angekündigt, den er „Kleginit“ genannt hat. Mit dieser wunderbaren Erfindung kündigt Herr Clegin an, daß er bis in in eine Entfernung von 30 Meilen fotografieren kann, wobei nichts anderes als eine gewöhnliche Kamera – und ein Zehntel eines Prozentes Kleginit – notwendig ist. Eine Kodak-Westentaschenkamera, sagt dieser außergewöhnliche Bar-Zauberer, ist jetzt mit den besten Teleskopen, die Wissenschaftler kennen, vergleichbar. Mit diesem neuen Strahl hat Herr Clegin einige Bilder von der Sonne gemacht, die er pariser Astronomen gezeigt hat. Einige Lichtspuren auf diesen Photographien werden vom Entdecker als Photographien von städtischen Straßen auf der Sonne gedeutet; es ist seine Idee, daß die Sonne ein kalter Planet ist, nicht allzu weit weg, und von Menschen bewohnt, die so leben wie wir auf der Erde. Zweifellos gibt es sogar Preiskämpfer unter ihnen. Es ist eine erstaunliche Leichtgläubigkeit der modernen Öffentlichkeit, daß es sogar einer so große Scharlatanerie wie dieser an Befürworter und Jüngern nicht fehlt, selbst unter Journalisten der Presse. Herr Clegin hat angeboten, tausend Dollar darauf zu wetten, daß er ein Tier mit seinem Strahl töten kann, aber es wurden keine Tests inszeniert. M. Camille Flammarion, immer bereit, jeder neuen Idee zuzuhören, egal wie töricht sie auch erscheinen mag, hat angeboten, jede gewünschte Demonstration des wunderbaren Kleginits zu bezeugen, aber der Erfinder hat noch keine Anzeichen gegeben, dieses Angebot anzunehmen.“ [2]
– „New Death Ray „Expert“ Sees Number of Streets on Sun; Cafe Is Laboratory“ – „Former Manager of Negro Prizefighter Astonishes French Scientists with Claims — New Ray Called „Kleginite“ — Ordinary Camera Using This Marvelous Invention Takes Photographs 30 Miles Distant“ – „PARIS. — One of the most bizarre byproducts of the „death ray“ craze is the appearance in the limelight, in Paris, of a new „scientist,“ one Richard Clegin, previously known chiefly as the former manager of Joe Gans, the negro prizefighter. Mr. Clegin’s office, in his own words, is at the Ritz bar, in Paris. From this point of vantage he has announced to Paris journalists the discovery of a new ray, hitherto quite unknown, which he has named „Kleginite.“ With this marvelous invention Mr. Clegin announces that he can take photographs at a distance of 30 miles, with nothing but an ordinary camera — and one-tenth of one per cent of Kleginite — being necessary. A vest pocket kodak, says this extraordinary barroom wizard, is now the equal of the best telescopes known to scientists. With this new ray Mr. Clegin has made some pictures of the sun which he has shown to Paris astronomers. Some light streaks on these photographs are explained by the discoverer as being photographs of city streets on the sun; it being his idea that the sun is a cold planet, not too far away, and inhabited by folks who live much as we do on earth. No doubt there are even prizefighters among them. It is a curious credulity of the modern public that even such utter charlatanry as this does not lack for supporters and followers, even among writers for the press. Mr. Clegin has offered to bet one thousand dollars that he can kill an animal with his ray but no tests have been staged. M. Camille Flammarion, always willing to listen to any new idea, no matter how foolish it may seem to be, has offered to witness any desired demonstration of the marvelous Kleginite, but the inventor has not, as yet, shown any signs of accepting this offer.“ [2]
Das ist doch nun wirklich eine der besten Bar-Geschichten des Jahrhunderts. Aber wer weiß, vielleicht ist ja etwas Wahres daran? War Richard Klegin in Wirklichkeit vielleicht ein von der Sonne stammender Außerirdischer? Woher sonst hätte er wissen können, daß es dort kalt ist, Straßen vorhanden sind und Menschen leben? Woher sonst hätte er das Kleginit kennen können? Ist er nicht Superman ähnlich gewesen, der, wie wir alle wissen, in den 1930er Jahren in Erscheinung trat, bekanntlich vom Planeten Krypton stammte, mit einem Raumschiff zur Erde gelangte, am Stadtrand von Smallvilles im amerikanischen Bundesstaat Kansas als Kind landete und von Einheimischen als eigener Sohn großgezogen wurde? Und ist Kleginit vielleicht mit Kryptonit vergleichbar? [3]
Dieser Artikel aus dem Jahr 1924 läßt vermuten, daß das Mischgetränk, um das es in unserem Artikel geht, vermutlich nicht erst 1927 in Paris auf dem Markt war, sondern vermutlich schon ein paar Jahre zuvor. Der Artikel des Radio Digest ist eine wertvolle Quelle. Läßt man alle Fabuliererei beiseite, so ist das Kleginit eine Erfindung des Richard Klegin. So bezeugen es beide Quellen. Darüber hinaus wird noch ein gewisser M. Camille Flammarion erwähnt. Wer ist das?
Nicolas Camille Flammarion wurde 1842 geboren und verstarb 1925. Er war ein französischer Astronom, Autor sowohl populärwissenschaftlicher Schriften als auch phantastischer Erzählungen und erster Präsident der von ihm gegründeten Société astronomique de France, der Astronomischen Gesellschaft Frankreichs. Als Neunzehnjähriger veröffentlichte er 1861 „Die Mehrheit der bewohnten Welten“. Darin vertrat er die Meinung, daß Leben nicht nur auf der Erde, sondern auch auf anderen Planeten des Sonnensystems existieren könne. Warum also nicht auch auf der Sonne, wie von Richard Klegin behauptet, möchte man augenzwinkernd hinzufügen. Camille Flammarion war der Meinung, die auf dem Mars sichtbaren Kanäle seien von einer hochentwickelten Kultur erbaut worden. [4]
Camille Flammarions Enkel Léon Deloy wurde 1894 in Paris geboren, war ein französischer Sportschütze und Funkamateur. Er stellte am 28. November 1923 mit Fred H. Schnell die erste interkontinentale Zweiweg-Funkverbindung her, und zwar zwischen dem französischen Nizza und dem in Connecticut in den USA gelegenen West Hartford. [5]
Mit dieser Hintergrundinformation schließlich klärt sich langsam der Sachverhalt auf. Wir vermuten, daß sich Richard Klegin und Nicolas Camille Flammarion kannten, und gemeinsam bei dem einen oder anderen Gläschen eines Mischgetränkes, es mag Kleginite gewesen sein, vielleicht sogar in der Ritz-Bar, über Leben auf anderen Welten und andere utopische Dinge wie Zauberstrahlen unterhielten. So entstand schließlich die Geschichte des Kleginits und der Bewohner der Sonne. Léon Deloy mag dabei gewesen sein, oder erhielt von seinem Großvater Berichte darüber. Man wird diese in Paris sicherlich gekannt haben, denn auch Arthur Moss deutet es an, indem er über den „angesehenen Wissenschaftler“ und Kamerafreund Richard Klegin schreibt. Léon Deloy wird diese phantastische Geschichte wahrscheinlich per Funk an seine Funk-Kameraden weitergegeben haben, und so hat sie es schließlich bis in den Radio Digest geschafft.
Der Radio Digest war nämlich ein seit 1922 in Chicago erscheinendes Magazin mit Programminformationen und Branchennachrichten. Es ist also nichts ungewöhnliches, dort auch Funker-Geschichten zu veröffentlichen. [6] [7] Das Radio und der Rundfunk waren damals etwas Neues. Am 6. November 1919 sendete der niederländische Fabrikant Hanso Schotanus à Steringa Idzerda aus seiner privaten Wohnung in Den Haag die erste bekannte Radiosendung. An vier Tagen der Woche sendete er bis 1924 sein beliebtes Programm. 1920 nahm in Pittsburg in den USA die erste kommerzielle Radiostation ihren regelmäßigen Betrieb auf. Im Dezember 1920 wurde als erste deutsche Rundfunkübertragung ein Weihnachtskonzert durch die Reichspost ausgestrahlt. [8]
Doch was kann man noch über Richard Klegin, den offensichtlichen Erfinder oder zumindest Namensgebers des Kleginite berichten? Richard Klegin stammt aus Sioux City in Iowa. Er war Manager von Joe Gans (1874-1910), einem US-amerikanischen Boxer und Weltmeister im Leichtgewicht, welcher von manchen für den größten Leichtgewichtsboxer aller Zeiten gehalten wird. Richard Klegin war nicht nur im Box-Sport, sondern auch im Bereich des Baseballs aktiv. Als Präsident der International Baseball League wollte er 1913 in Europa eine internationale Baseball-Liga schaffen. [9] [10] [11] [13] [14] Er galt als Globetrotter, und es war vielen ein Rätsel, wie er dies finanzierte. Er machte wohl öfter schlechte Geschäfte, doch das kümmerte ihn anscheinend nicht viel, denn er war von heiterem Gemüt. Auch hatte er eine Vorliebe für schöne Kleidung. Es war wohl nicht ungewöhnlich, daß er nicht immer genügend Geld besaß und wohl nicht immer alle seine Schulden zurück zahlte – so jedenfalls wird es einem von uns gefundenen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1921 dargestellt. Er war in diesem Jahr immer noch im Boxer-Geschäft und war weltweit wohl vernetzt, mit Kontakten nach Paris, London, Sankt Petersburg, Berlin, Wien, Rom, Peking, Tokio, Warschau, Moskau und Athen. [12]
Die große Frage bei diesem Rezept ist diejenige nach dem Sake. Natürlich kann man auch modernere Varianten verwenden. Ausschlaggebend ist jedoch, daß er sich gegenüber einem aromareichen italienischem Wermut behaupten kann. Jörg Müller, Geschäftsführer bei Ueno Gourmet und Sake-Sommelier, beantwortete unsere Frage, welcher Sake in einem Kleginite passen könnte mit den Worten: »Die heutzutage produzierten Sake sind in der Regel eleganter, milder und leichter als die vor hundert Jahren. Somit muss man gegebenenfalls das Mischungsverhältnis etwas anpassen. Und natürlich hängt es auch vom Wermut ab. Grundsätzlich würde ich einen geschmacklich kräftigeren und vom Stil tradionellen Sake hierfür empfehlen.« Wir sind seiner Empfehlung gefolgt und haben uns für den Kobe Special von Fukuju entschieden.
Quellen
- Harry McElhone: Barflies and Cocktails. Over 300 Cocktail Receipts by Harry and Wynn with slight contributions From Arthur Moss. Paris, Lecram Press, 1927
- http://www.otrr.org/FILES/Magz_pdf/Radio%20Digest/RadioDigest-24-09-13.pdf: New Death Ray „Expert“ Sees Number of Streets on Sun; Cafe Is Laboratory. In: Radio Digest, Vol. X, Samstag, 13. September 1924, Seite 14. Alternativ verfügbar auf https://archive.org/details/radi19241101219241925radi?q=kleginite.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Superman: Superman.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Camille_Flammarion: Camille Flammarion.
- https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Deloy: Léon Deloy.
- https://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/serial?id=radiodigest: Archive listing for Radio Digest.
- https://www.americanradiohistory.com/Radio_Digest_Master_Page_Guide.htm: Radio Digest Magazine (1922-1933).
- https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_H%C3%B6rfunks: Geschichte des Hörfunks.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Joe_Gans: Joe Gans.
- https://en.wikipedia.org/wiki/Joe_Gans: Joe Gans.
- https://www.coloradohistoricnewspapers.org/?a=d&d=AUD19121115-01.2.80&srpos=3&e=——-en-20–1–txt-txIN-richard+klegin——-0-: Aurora Democrat, 15. November 1912, Seite 11.
- https://idnc.library.illinois.edu/?a=d&d=COE19210219.1.5&srpos=1&e=——-en-20–1–txt-txIN-richard+klegin——-: Collyer’s Eye. 19. Februar 1921, Seite 5.
- https://bklyn.newspapers.com/image/59737691/?terms=richard%2Bklegin: The Brooklyn Daily Eagle, 19. Juni 1914, Seite 18.
- http://thenextbaseballcountrywillbefrance.blogspot.com/2013/07/la-ligue-europeenne-de-baseball-acte-i.html: Histoire oubliée d’un sport méconnu. La Ligue Européenne de Baseball (Acte I). Vom 6. Juli 2013.
- https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Camille_Flammarion.003.jpg: Nicolas Camille Flammarion (1842-1925).
- https://en.wikipedia.org/wiki/Kleagle: Kleagle.
Historische Rezepte
1927 Harry McElhone: Barflies and Cocktails. Seite 81. Kleginite.
„That distinguished scientist, Richard Klegin, has evolved
from his giant brain a real killer. „Kleginite,“ this kamera-
fiend calls it, and it’s potent enough to korrect even a
Kleagle of the Ku Klux Klan. Simple, too: 1/2 Italian
vermouth and 1/2 Japanese sake. Ain’t science wonderful?“
explicit capitulum
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Tolle Geschichte, viele Dank!