Nachdem wir festgestellt haben, daß der Martinez Cocktail und der Martini Cocktail in den Zeiten bis zur Prohibition als identisch anzusehen sind, stellt sich die Frage, ob alle Drinks, die nach deren Rezeptur zubereitet werden, auch so benannt werden. Auch den Manhattan Cocktail werden wir entsprechend betrachten.
Aufgrund ihres Umfangs erfolgt die Veröffentlichung dieser Abhandlung über den Martini Cocktail in mehrere Teilen, die sich wie folgt gestalten:
Bevor wir die aufgeworfene Frage klären, sei die Formulierung des Manhattan Cocktails, des Martinez Cocktails und des Martini Cocktails nochmals wiederholt:
Die Frage, die sich nun stellt, ist diese: Werden Cocktails, die diesen Definitionen entsprechen auch immer Manhattan Cocktail, Martinez Cocktail oder Martini Cocktail genannt? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage die Entwicklung der Wermutdrinks in den Barbüchern. Zunächst ergibt sich ein klares Bild mit nur wenigen Grundrezepten, in denen Wermut außerdem nur als Hauptspirituose eingesetzt wird.
Die Frühzeit (1869 – 1891)
Zunächst gibt es nur den Vermouth Cocktail, der Wermut als Basisspirituose verwendet (1869 Haney, 1882 Johnson, 1883 McDonough, 1884 Byron, 1884 Gibson, 1887 Thomas, 1888 Johnson, 1888 Lamore, 1889 Lefeuvre) und den Vermouth Frappee (1884 Byron, 1888 Lamore). Mit Wermut, amerikanischem Whiskey und Bitters und optional den „klassischen“ Aromagebern Absinth, Curaçao oder Maraschino gibt es den Manhattan Cocktail (1884 Byron, 1884 Gibson, 1884 Winter, 1887 Thomas, 1888 Johnson, 1888 Lamore), alternativ mit Scotch gemixt 1887 bei Paul. Mit Wermut, Old Tom oder Dry Gin und Bitters und optional den „klassischen“ Aromagebern Absinth, Curaçao oder Maraschino gibt es den Martinez Cocktail (1884 Byron, 1887 Thomas, 1888 Lamore), den Turf Club Cocktail (1884 Winter, bestehend aus italienischer Wermut, Tom Gin und Peruvian Bitters) und den Martini Cocktail (1888 Johnson). Da Wermut bereits mit Whiskey und Gin kombiniert wurde, wundert es nicht, daß es auch Wermut und Brandy als Hauptzutaten gibt, und zwar als Metropolitan Cocktail (1884 Byron). Auch die Kombination von 3 Hauptspirituosen ist nicht unbekannt. Der Saratoga Cocktail (1887 Thomas) vereint Wermut, Brandy und Whiskey.
Entsprechend unserer Definition entspricht der Turf Club Cocktail einem Martinez Cocktail.
Doch mit Schmidt 1892 explodiert die Zahl der Rezepturen mit Wermut förmlich. Insgesamt verwenden über 12% seiner Rezepte (28 Stück) Wermut, überwiegend als Basisspirituose. In nachfolgenden Zeiten ersinnt man verschiedenste Kombinationen mit verschiedensten Mengenverhältnissen. Im folgenden werden beide Entwicklungszweige, mit Whiskey oder mit Gin, der besseren Übersicht halber getrennt betrachtet.
Wermut-Whiskey-Cocktails („Manhattan Cocktails“)
Die Whiskey-Rezepturen bleiben verglichen mit den Gin-Rezepturen noch recht übersichtlich. Bei Schmidt (1892) gibt es mit Whiskey und Wermut als Basisspirituose nur den Manhattan Cocktail. Gleiches gilt für die Bartenders‘ Association 1895.
Kappeler kennt 1895 schon 34 Cocktails mit Wermut, davon 10 Varianten mit Whiskey: Beim Brain-Duster (Absinth, Italienischer Wermut und Whiskey mit Zuckersirup) wird der Absinth ebenfalls zu einer Basisspirituose; somit fällt der Drink nicht mehr unter unsere Manhattan-Definition. Der Double-Barrel Cocktail (französischer und italienischer Wermut und Whiskey mit Angostura Bitters und Orange Bitters) ist hingegen eine Manhattan-Variante. Beim Hiram Cocktail (italienischer Wermut und kanadischer Whiskey mit Peychaud’s Bitters und einer Maraschino-Kirsche) kann man streiten; er entspricht in seinem Aufbau einem Manhattan Cocktail, verwendet aber kanadischen Whiskey. Der Irish Cocktail No. 1 (italienischer Wermut und Whiskey mit Orange Bitters und Phosphorsäure) entspricht nicht mehr der Manhattan-Definition, denn er wird mit Phosphorsäure gesäuert (mit der beispielsweise auch Cola-Getränke gesäuert werden); ein Manhattan Cocktail ist ungesäuert. Als Manhattanvariante kann hingegen der York Cocktail (italienischer Wermut und Whiskey mit Orange Bitters und Zitronenzeste) gelten. Auch wenn der Manhattan Punch (französischer Wermut und Whiskey mit Zucker, Angostura Bitters und Zitronensaft) im Namen den Zusatz „Manhattan“ trägt, ist er doch durch die Säuerung bedingt kein Vertreter eines Manhattan Cocktails. Natürlich gibt es bei Kappeler auch den Manhattan Cocktail und sein Pendant, den Bottled Manhattan Cocktail.
Entsprechend unserer Definition sind der Barrel Cocktail und der York Cocktail ein Manhattan Cocktail.
Überspringen wir nun chronologisch einige darauf folgende Cocktailbücher und wenden uns direkt Straubs Veröffentlichung aus dem Jahre 1914 zu. In seinem Buch wird das Thema Wermut in den vielfältigsten Variationen durchgespielt. Mit Wermut, Whiskey und Bitter kennt er den Calumet Club Cocktail (italienischer Wermut und Bourbon Whiskey mit Angostura Bitters und Phosphorsäure). Dieser ist jedoch kein Manhattan Cocktail mehr, denn mit der Zugabe von Phosphorsäure wird eine Säurequelle hinzugegeben. Ein Manhattan Cocktail wird jedoch ohne Säure zubereitet. Der Clifton Cocktail (französischer Wermut und Rye Whiskey mit Angostura Bitters und braunem Curaçao) hingegen entspricht einem Dry Fancy Manhattan Cocktail. Der Waldorf Cocktail (italienischer Wermut, Rye Whiskey und Absinth mit Orange Bitters) scheint auf den ersten Blick ein Dry Fancy Manhattan Cocktail zu sein, doch da der Absinth zu einer Basisspirituose geworden ist und somit eine dominierende Rolle erlangt hat, stellt er eine Weiterentwicklung des Manhattan Cocktails dar; es daher ist gerechtfertigt, ihn nicht mehr als Manhattan Cocktail zu betrachten.
Entsprechend unserer Definition ist der Clifton Cocktail ein Manhattan Cocktail.
Bei Straub gibt es auch Abwandlungen, in denen Scotch Whisky verwendet wird, und zwar den Rob Roy Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Angostura Bitters und Orange Bitters), den Express Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Orange Bitters) und den York Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Orange Bitters). Interessant ist hierbei, daß in allen drei dieser Rezepturen jeweils gleiche Mengen an Wermut und Scotch Whisky verwendet werden. Alle drei Cocktails darf man also durchaus als grundsätzlich identisch betrachten.
Als Schlußfolgerung kann man daraus ableiten, daß bis zur Prohibition über den Manhattan Cocktail und seine verschiedene Variationen eine ziemlich klare Vorstellung herrschte, und daß diese Variationen größtenteils auch als Manhattan Cocktail bezeichnet wurden. Grundsätzlich können wir also feststellen, daß jeder Cocktail, der der zuvor gegebenen Definition eines Manhattan Cocktails entspricht, auch als Manhattan Cocktail bezeichnet wurde. Die Ausnahmen die wir in den genannten Beispielen gefunden haben (Barrel Cocktail, York Cocktail und Clifton Cocktail) deuten zwar schon darauf hin, daß einzelne Variationen mit eigenen Namen versehen werden, aber das sind nur vereinzelt vorhandenen Ansätze; wie wir sehen werden, sieht dies bei Wermut-Gin-Rezepten schon ganz anders aus.
Wermut-Gin-Cocktails („Martinez oder Martini Cocktails“)
Betrachten wir nun, welche Rezepte für die Kombination von Wermut und Gin als Basisspirituose gegeben werden. Bei Schmidt sind es 1892 noch relativ wenige. The Angelus (Wermut und Old Tom Gin mit Zuckersirup, Absinth, Orange Bitters und Curaçao) entspricht der gegebenen Definition eines Martinez Cocktails, ebenso der L’Aurore (Old Tom Gin und Wermut mit Zuckersirup, Orange Bitters, Absinth und Maraschino). Beim Club Cocktail (Old Tom Gin und Wermut mit Zuckersirup, Orange Bitters und grünem Chartreuse) kommt ein neuer Aromageber hinzu, und weicht damit von der Martinez-Definition ab. Abweichend ist auch Holland’s Pride (Holland Gin und Wermut mit Zuckersirup, Bitters und Absinth), denn Genever als Basisspirituose ist für einen Martinez Cocktail nicht belegt.
Entsprechend unserer Definition sind The Angelus und L‘Aurore ein Martinez Cocktail.
Die Bartender Association von 1895 nennt keine Cocktails mit Wermut und Gin. Kappeler, ebenfalls aus dem Jahr 1895, kennt hingegen den Dundorado Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit 2 dash Calasaya), der aber – da er Calasaya, einen Kräuterlikör, als Aromageber verwendet nicht unter unsere Definition eines Martinez Cocktails fällt. Gleiches gilt für den Ford Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters, Bénédictine und Orangenzeste), der Bénédictine verwendet. Sein Racquet Club Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Zitronenzeste) ist jedoch eine Martinez-Variante. Der Smith Cocktail (französischer Wermut und Holland Gin mit Angostura Bitters und Zitronenzeste) hingegen nicht, da dort Genever verwendet wird. Auch kennt Kappeler einen Martini Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters, Zitronenzeste und nach Wunsch Maraschinokirsche).
Entsprechend unserer Definition ist der Raquet Club Cocktail ein Martinez Cocktail.
Nicht unserer Martinez-Definition entsprechen Kappelers folgende Cocktails, da sie abweichende Zutaten verwenden: Der Turf Cockteil No. 2 (italienischer Wermut und Genever mit Angostura Bitters), der Virgin Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters und Himbeersirup), der Crisp Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Orangenscheibe), der Milo Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Pepsin Bitters), der Salome Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Sellerieblättern), der Trilby Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Creme Yvette), der Tuxedo Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters, Absinth, Maraschino und Sherry), der Poet’s Dream Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Bénédictine).
Überspringen wir nun wiederum ein paar Cocktailbücher, die chronologisch betrachtet folgen würden, und gehen wir direkt zu Straubs Veröffentlichung aus dem Jahr 1914. Welches Bild ergibt sich dort? Mit der Kombination Wermut, Gin und Bitters gibt es bei Straub bereits 28 verschiedene Rezepturen! Er listet auf als „wie ein Martini“ den Philadelphia Special (+ Curaçao), den Love Cocktail (+ Eiweiß) und den McHenry Cocktail (+ ungarischer Aprikosenbrandy). Hiervon kann der Philadelphia Special als Martinez Cocktail gelten. Gleiches gilt für den Brighton Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Zitronenzeste), den Hillard Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Prince Henry Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Down Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Olive), den Bridal Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Silver Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Martini Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Improved Martini Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Hearst Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters und Orange Bitters), den Farmer’s Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Astoria Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters), den Golf Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Highstepper Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Christie Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Marguerite Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Turf Cocktail No. 1 (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters, Absinth und Maraschino), den Trowbridge Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Orangenzeste).
Beim McCutcheon Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters, Orange Bitters und Anisette) kann man darüber streiten, ob Anisette wie Absinth zu betrachten wäre, doch da Absinth in den USA ab 1912 verboten war und Anisette als Ersatz verwendet wurde, ist es zulässig, den McCutcheon Cocktail als eine Variante des Martinez Cocktails zu betrachten.
Entsprechend unserer Definition sind folgende Cocktails Martinez-Varianten: Philadelphia Special, Brighton Cocktail, Hillard Cocktail, Prince Henry Cocktail, Down Cocktail, Bridal Cocktail, Silver Cocktail, Martini Cocktail, Improved Martini Cocktail, Hearst Cocktail, Farmer’s Cocktail, Astoria Cocktail, Golf Cocktail, Highstepper Cocktail, Cristie Cocktail, Marguerite Cocktail, Turf Cocktail No. 1, Trowbridge Cocktail. Eventuell auch der McCutcheon Cocktail.
Es herrscht also bei den „klassischen“ Martinez- bzw. Martinivarianten (mit Bitters und gegebenenfalls Aromagebern) bei Straub eine ziemliche Verwirrung. Diese wird gesteigert, wenn man sich die Gattung der Drinks ansieht, die einen „reduzierten“ Martini Cocktail darstellen, also ohne Bitter und Aromageber nur noch aus Wermut, Gin und Garnierung bestehen. Hier herrschen wahrhaft babylonische Zustände. Mit italienischem Wermut und Dry Gin finden wir folgende Cocktails: Anderson Cocktail (+ Orangenzeste), Homestead Cocktail (+ Orangenscheibe), Hudson Cocktail (+ Orangenscheibe), Treasury Cocktail (+ Orangenscheibe), Junkins Cocktail (+ Zitronenzeste). Mit italienischem Wermut, französischem Wermut und Dry Gin: Four Dollar Cocktail, Hall Cocktail (+ Olive), Blackstone Cocktail (+ Orangenzeste), Boles Cocktail (+ Orangenzeste), Dorr Cocktail (+ Orangenzeste), Perfect Cocktail (+ Orangenzeste), McLane Cocktail (+ Orangenzeste), Sphinx Cocktail (+ Zitronenzeste). Mit französischem Wermut und Dry Gin: Consolidated Cocktail, Cornell Cocktail, Cushman Cocktail, Dry Martini Cocktail, Duke Cocktail, Gibson Cocktail, Lewis Cocktail, Cat Cocktail (+ Olive), Blackstone No. 2 (+ Orangenzeste), Cabinet Cocktail (+ Orangenzeste), Delmonico Cocktail (+ Orangenzeste), Racquet Club Cocktail (+ Orangenzeste). Mit italienischem Wermut und Old Tom Gin: Lone Tree Cocktail, Rossington Cocktail (+ Orangenzeste), Blackstone No. 1 (+ Zitronenzeste). Mit französischem Wermut und Old Tom Gin: Good Times Cocktail (+ Zitronenzeste). Dies alles sind schon Spielarten des „modernen“ Martini Cocktails, bei denen nur noch Wermut, Gin und optional Garnierung Verwendung finden.
Mit Wermut und Gin kennt Straub darüber hinaus weitere Cocktails mit Gin und Wermut (die „Nicht-Martinis“), die aufzuzählen ich hier aber unterlasse, da es schlichtweg zu viele Varianten werden würden.
Schlußfolgerung
Welche Schlüsse kann man aus diesem Wirrwar ziehen? In älteren Zeiten gehörten wenige Cocktails zu den Standards, die dann wiederum süß oder trocken, mit oder ohne Aromageber zubereitet wurden und entsprechend mit dem Zusatz Sweet, Dry, Extra Dry, Plain, Fancy oder Improved bestellt wurden. Diese Zusätze fielen irgendwann weg, und so erhielten die einzelnen Varianten eigene Namen. Hinzu kommt sicherlich, daß Wermut und Dry Gin immer beliebter wurden, und zur Hochzeit der Cocktailkultur zu Experimenten einlud; so entstanden sicherlich gleiche Rezepturen an unterschiedlichen Orten, jeweils mit eigenem Namen; schon ist die aufgezeigte Verwirrung komplett. Im Laufe der Zeit gingen viele dieser Namen wieder verloren, und es kristallisierte sich unter altem Namen ein neues Verständnis heraus.
Vergrößert wird diese Verwirrung außerdem durch die Evolution, der der Martini unterworfen war, in seiner Entwicklung hin zu immer weniger (oder gar keinem) Wermut, Wodka anstatt Gin und den unzähligen bunten XY-tinis die folgen sollten. Doch was versteht man heutzutage unter Manhattan, Martinez und Martini? Dies wird der Folgebeitrag aufzeigen.
Nachdem wir festgestellt haben, daß der Martinez Cocktail und der Martini Cocktail in den Zeiten bis zur Prohibition als identisch anzusehen sind, stellt sich die Frage, ob alle Drinks, die nach deren Rezeptur zubereitet werden, auch so benannt werden. Auch den Manhattan Cocktail werden wir entsprechend betrachten.
Aufgrund ihres Umfangs erfolgt die Veröffentlichung dieser Abhandlung über den Martini Cocktail in mehrere Teilen, die sich wie folgt gestalten:
Bevor wir die aufgeworfene Frage klären, sei die Formulierung des Manhattan Cocktails, des Martinez Cocktails und des Martini Cocktails nochmals wiederholt:
Manhattan Cocktail
Wermut + Whiskey + Bitters (+ Zuckersirup) (+ Curaçao, Maraschino, Absinth) (+ mitgerührter Zitronenzeste) (+ Garnierung: Zitronenzeste, Kirsche, Olive)
Martinez Cocktail
Wermut + Dry Gin, Old Tom Gin + Bitters (+ Zuckersirup) (+ Maraschino, Curaçao) (+ mitgerührter Zitronenzeste) (+ Garnierung: Zitronenscheibe, Zitronenzeste, Kirsche)
Martini Cocktail
Wermut + Dry Gin, Old Tom Gin (+ Bitters) (+ Zuckersirup) (+ Curaçao, Maraschino, Absinth, Sherry) (+ mitgerührter Zitronenzeste) (+ Garnierung: Olive, Zitronenzeste, Kirsche)
Die Frage, die sich nun stellt, ist diese: Werden Cocktails, die diesen Definitionen entsprechen auch immer Manhattan Cocktail, Martinez Cocktail oder Martini Cocktail genannt? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage die Entwicklung der Wermutdrinks in den Barbüchern. Zunächst ergibt sich ein klares Bild mit nur wenigen Grundrezepten, in denen Wermut außerdem nur als Hauptspirituose eingesetzt wird.
Die Frühzeit (1869 – 1891)
Zunächst gibt es nur den Vermouth Cocktail, der Wermut als Basisspirituose verwendet (1869 Haney, 1882 Johnson, 1883 McDonough, 1884 Byron, 1884 Gibson, 1887 Thomas, 1888 Johnson, 1888 Lamore, 1889 Lefeuvre) und den Vermouth Frappee (1884 Byron, 1888 Lamore). Mit Wermut, amerikanischem Whiskey und Bitters und optional den „klassischen“ Aromagebern Absinth, Curaçao oder Maraschino gibt es den Manhattan Cocktail (1884 Byron, 1884 Gibson, 1884 Winter, 1887 Thomas, 1888 Johnson, 1888 Lamore), alternativ mit Scotch gemixt 1887 bei Paul. Mit Wermut, Old Tom oder Dry Gin und Bitters und optional den „klassischen“ Aromagebern Absinth, Curaçao oder Maraschino gibt es den Martinez Cocktail (1884 Byron, 1887 Thomas, 1888 Lamore), den Turf Club Cocktail (1884 Winter, bestehend aus italienischer Wermut, Tom Gin und Peruvian Bitters) und den Martini Cocktail (1888 Johnson). Da Wermut bereits mit Whiskey und Gin kombiniert wurde, wundert es nicht, daß es auch Wermut und Brandy als Hauptzutaten gibt, und zwar als Metropolitan Cocktail (1884 Byron). Auch die Kombination von 3 Hauptspirituosen ist nicht unbekannt. Der Saratoga Cocktail (1887 Thomas) vereint Wermut, Brandy und Whiskey.
Doch mit Schmidt 1892 explodiert die Zahl der Rezepturen mit Wermut förmlich. Insgesamt verwenden über 12% seiner Rezepte (28 Stück) Wermut, überwiegend als Basisspirituose. In nachfolgenden Zeiten ersinnt man verschiedenste Kombinationen mit verschiedensten Mengenverhältnissen. Im folgenden werden beide Entwicklungszweige, mit Whiskey oder mit Gin, der besseren Übersicht halber getrennt betrachtet.
Wermut-Whiskey-Cocktails („Manhattan Cocktails“)
Die Whiskey-Rezepturen bleiben verglichen mit den Gin-Rezepturen noch recht übersichtlich. Bei Schmidt (1892) gibt es mit Whiskey und Wermut als Basisspirituose nur den Manhattan Cocktail. Gleiches gilt für die Bartenders‘ Association 1895.
Kappeler kennt 1895 schon 34 Cocktails mit Wermut, davon 10 Varianten mit Whiskey: Beim Brain-Duster (Absinth, Italienischer Wermut und Whiskey mit Zuckersirup) wird der Absinth ebenfalls zu einer Basisspirituose; somit fällt der Drink nicht mehr unter unsere Manhattan-Definition. Der Double-Barrel Cocktail (französischer und italienischer Wermut und Whiskey mit Angostura Bitters und Orange Bitters) ist hingegen eine Manhattan-Variante. Beim Hiram Cocktail (italienischer Wermut und kanadischer Whiskey mit Peychaud’s Bitters und einer Maraschino-Kirsche) kann man streiten; er entspricht in seinem Aufbau einem Manhattan Cocktail, verwendet aber kanadischen Whiskey. Der Irish Cocktail No. 1 (italienischer Wermut und Whiskey mit Orange Bitters und Phosphorsäure) entspricht nicht mehr der Manhattan-Definition, denn er wird mit Phosphorsäure gesäuert (mit der beispielsweise auch Cola-Getränke gesäuert werden); ein Manhattan Cocktail ist ungesäuert. Als Manhattanvariante kann hingegen der York Cocktail (italienischer Wermut und Whiskey mit Orange Bitters und Zitronenzeste) gelten. Auch wenn der Manhattan Punch (französischer Wermut und Whiskey mit Zucker, Angostura Bitters und Zitronensaft) im Namen den Zusatz „Manhattan“ trägt, ist er doch durch die Säuerung bedingt kein Vertreter eines Manhattan Cocktails. Natürlich gibt es bei Kappeler auch den Manhattan Cocktail und sein Pendant, den Bottled Manhattan Cocktail.
Überspringen wir nun chronologisch einige darauf folgende Cocktailbücher und wenden uns direkt Straubs Veröffentlichung aus dem Jahre 1914 zu. In seinem Buch wird das Thema Wermut in den vielfältigsten Variationen durchgespielt. Mit Wermut, Whiskey und Bitter kennt er den Calumet Club Cocktail (italienischer Wermut und Bourbon Whiskey mit Angostura Bitters und Phosphorsäure). Dieser ist jedoch kein Manhattan Cocktail mehr, denn mit der Zugabe von Phosphorsäure wird eine Säurequelle hinzugegeben. Ein Manhattan Cocktail wird jedoch ohne Säure zubereitet. Der Clifton Cocktail (französischer Wermut und Rye Whiskey mit Angostura Bitters und braunem Curaçao) hingegen entspricht einem Dry Fancy Manhattan Cocktail. Der Waldorf Cocktail (italienischer Wermut, Rye Whiskey und Absinth mit Orange Bitters) scheint auf den ersten Blick ein Dry Fancy Manhattan Cocktail zu sein, doch da der Absinth zu einer Basisspirituose geworden ist und somit eine dominierende Rolle erlangt hat, stellt er eine Weiterentwicklung des Manhattan Cocktails dar; es daher ist gerechtfertigt, ihn nicht mehr als Manhattan Cocktail zu betrachten.
Bei Straub gibt es auch Abwandlungen, in denen Scotch Whisky verwendet wird, und zwar den Rob Roy Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Angostura Bitters und Orange Bitters), den Express Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Orange Bitters) und den York Cocktail (italienischer Wermut und Scotch Whisky mit Orange Bitters). Interessant ist hierbei, daß in allen drei dieser Rezepturen jeweils gleiche Mengen an Wermut und Scotch Whisky verwendet werden. Alle drei Cocktails darf man also durchaus als grundsätzlich identisch betrachten.
Als Schlußfolgerung kann man daraus ableiten, daß bis zur Prohibition über den Manhattan Cocktail und seine verschiedene Variationen eine ziemlich klare Vorstellung herrschte, und daß diese Variationen größtenteils auch als Manhattan Cocktail bezeichnet wurden. Grundsätzlich können wir also feststellen, daß jeder Cocktail, der der zuvor gegebenen Definition eines Manhattan Cocktails entspricht, auch als Manhattan Cocktail bezeichnet wurde. Die Ausnahmen die wir in den genannten Beispielen gefunden haben (Barrel Cocktail, York Cocktail und Clifton Cocktail) deuten zwar schon darauf hin, daß einzelne Variationen mit eigenen Namen versehen werden, aber das sind nur vereinzelt vorhandenen Ansätze; wie wir sehen werden, sieht dies bei Wermut-Gin-Rezepten schon ganz anders aus.
Wermut-Gin-Cocktails („Martinez oder Martini Cocktails“)
Betrachten wir nun, welche Rezepte für die Kombination von Wermut und Gin als Basisspirituose gegeben werden. Bei Schmidt sind es 1892 noch relativ wenige. The Angelus (Wermut und Old Tom Gin mit Zuckersirup, Absinth, Orange Bitters und Curaçao) entspricht der gegebenen Definition eines Martinez Cocktails, ebenso der L’Aurore (Old Tom Gin und Wermut mit Zuckersirup, Orange Bitters, Absinth und Maraschino). Beim Club Cocktail (Old Tom Gin und Wermut mit Zuckersirup, Orange Bitters und grünem Chartreuse) kommt ein neuer Aromageber hinzu, und weicht damit von der Martinez-Definition ab. Abweichend ist auch Holland’s Pride (Holland Gin und Wermut mit Zuckersirup, Bitters und Absinth), denn Genever als Basisspirituose ist für einen Martinez Cocktail nicht belegt.
Die Bartender Association von 1895 nennt keine Cocktails mit Wermut und Gin. Kappeler, ebenfalls aus dem Jahr 1895, kennt hingegen den Dundorado Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit 2 dash Calasaya), der aber – da er Calasaya, einen Kräuterlikör, als Aromageber verwendet nicht unter unsere Definition eines Martinez Cocktails fällt. Gleiches gilt für den Ford Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters, Bénédictine und Orangenzeste), der Bénédictine verwendet. Sein Racquet Club Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Zitronenzeste) ist jedoch eine Martinez-Variante. Der Smith Cocktail (französischer Wermut und Holland Gin mit Angostura Bitters und Zitronenzeste) hingegen nicht, da dort Genever verwendet wird. Auch kennt Kappeler einen Martini Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters, Zitronenzeste und nach Wunsch Maraschinokirsche).
Nicht unserer Martinez-Definition entsprechen Kappelers folgende Cocktails, da sie abweichende Zutaten verwenden: Der Turf Cockteil No. 2 (italienischer Wermut und Genever mit Angostura Bitters), der Virgin Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters und Himbeersirup), der Crisp Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Orangenscheibe), der Milo Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Pepsin Bitters), der Salome Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Sellerieblättern), der Trilby Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Creme Yvette), der Tuxedo Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters, Absinth, Maraschino und Sherry), der Poet’s Dream Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Bénédictine).
Überspringen wir nun wiederum ein paar Cocktailbücher, die chronologisch betrachtet folgen würden, und gehen wir direkt zu Straubs Veröffentlichung aus dem Jahr 1914. Welches Bild ergibt sich dort? Mit der Kombination Wermut, Gin und Bitters gibt es bei Straub bereits 28 verschiedene Rezepturen! Er listet auf als „wie ein Martini“ den Philadelphia Special (+ Curaçao), den Love Cocktail (+ Eiweiß) und den McHenry Cocktail (+ ungarischer Aprikosenbrandy). Hiervon kann der Philadelphia Special als Martinez Cocktail gelten. Gleiches gilt für den Brighton Cocktail (italienischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters und Zitronenzeste), den Hillard Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Prince Henry Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Down Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Olive), den Bridal Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Silver Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Martini Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Improved Martini Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Maraschino), den Hearst Cocktail (italienischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters und Orange Bitters), den Farmer’s Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Astoria Cocktail (französischer Wermut und Old Tom Gin mit Orange Bitters), den Golf Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Highstepper Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters), den Christie Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Marguerite Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters), den Turf Cocktail No. 1 (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters, Absinth und Maraschino), den Trowbridge Cocktail (französischer Wermut und Dry Gin mit Orange Bitters und Orangenzeste).
Beim McCutcheon Cocktail (italienischer Wermut, französischer Wermut und Dry Gin mit Angostura Bitters, Orange Bitters und Anisette) kann man darüber streiten, ob Anisette wie Absinth zu betrachten wäre, doch da Absinth in den USA ab 1912 verboten war und Anisette als Ersatz verwendet wurde, ist es zulässig, den McCutcheon Cocktail als eine Variante des Martinez Cocktails zu betrachten.
Es herrscht also bei den „klassischen“ Martinez- bzw. Martinivarianten (mit Bitters und gegebenenfalls Aromagebern) bei Straub eine ziemliche Verwirrung. Diese wird gesteigert, wenn man sich die Gattung der Drinks ansieht, die einen „reduzierten“ Martini Cocktail darstellen, also ohne Bitter und Aromageber nur noch aus Wermut, Gin und Garnierung bestehen. Hier herrschen wahrhaft babylonische Zustände. Mit italienischem Wermut und Dry Gin finden wir folgende Cocktails: Anderson Cocktail (+ Orangenzeste), Homestead Cocktail (+ Orangenscheibe), Hudson Cocktail (+ Orangenscheibe), Treasury Cocktail (+ Orangenscheibe), Junkins Cocktail (+ Zitronenzeste). Mit italienischem Wermut, französischem Wermut und Dry Gin: Four Dollar Cocktail, Hall Cocktail (+ Olive), Blackstone Cocktail (+ Orangenzeste), Boles Cocktail (+ Orangenzeste), Dorr Cocktail (+ Orangenzeste), Perfect Cocktail (+ Orangenzeste), McLane Cocktail (+ Orangenzeste), Sphinx Cocktail (+ Zitronenzeste). Mit französischem Wermut und Dry Gin: Consolidated Cocktail, Cornell Cocktail, Cushman Cocktail, Dry Martini Cocktail, Duke Cocktail, Gibson Cocktail, Lewis Cocktail, Cat Cocktail (+ Olive), Blackstone No. 2 (+ Orangenzeste), Cabinet Cocktail (+ Orangenzeste), Delmonico Cocktail (+ Orangenzeste), Racquet Club Cocktail (+ Orangenzeste). Mit italienischem Wermut und Old Tom Gin: Lone Tree Cocktail, Rossington Cocktail (+ Orangenzeste), Blackstone No. 1 (+ Zitronenzeste). Mit französischem Wermut und Old Tom Gin: Good Times Cocktail (+ Zitronenzeste). Dies alles sind schon Spielarten des „modernen“ Martini Cocktails, bei denen nur noch Wermut, Gin und optional Garnierung Verwendung finden.
Mit Wermut und Gin kennt Straub darüber hinaus weitere Cocktails mit Gin und Wermut (die „Nicht-Martinis“), die aufzuzählen ich hier aber unterlasse, da es schlichtweg zu viele Varianten werden würden.
Schlußfolgerung
Welche Schlüsse kann man aus diesem Wirrwar ziehen? In älteren Zeiten gehörten wenige Cocktails zu den Standards, die dann wiederum süß oder trocken, mit oder ohne Aromageber zubereitet wurden und entsprechend mit dem Zusatz Sweet, Dry, Extra Dry, Plain, Fancy oder Improved bestellt wurden. Diese Zusätze fielen irgendwann weg, und so erhielten die einzelnen Varianten eigene Namen. Hinzu kommt sicherlich, daß Wermut und Dry Gin immer beliebter wurden, und zur Hochzeit der Cocktailkultur zu Experimenten einlud; so entstanden sicherlich gleiche Rezepturen an unterschiedlichen Orten, jeweils mit eigenem Namen; schon ist die aufgezeigte Verwirrung komplett. Im Laufe der Zeit gingen viele dieser Namen wieder verloren, und es kristallisierte sich unter altem Namen ein neues Verständnis heraus.
Vergrößert wird diese Verwirrung außerdem durch die Evolution, der der Martini unterworfen war, in seiner Entwicklung hin zu immer weniger (oder gar keinem) Wermut, Wodka anstatt Gin und den unzähligen bunten XY-tinis die folgen sollten. Doch was versteht man heutzutage unter Manhattan, Martinez und Martini? Dies wird der Folgebeitrag aufzeigen.
Quellen
explicit capitulum
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